Weit hinter jenen Wäldern liegt ein kleiner Garten. Da wächst langes Gras, da blühen die großen weißen Sterne des Schierlings, und die Nachtigallen singen die ganze Nacht hindurch. Die ganze lange Nacht singen sie, und der kalte, kristallene Mond schaut nieder, und die Trauerweide breitet ihre Riesenarme über die Schläfer aus.
Oscar Wilde
So malerisch wie der Friedhof, der Garten des Todes, den das Gespenst von Canterville in der gleichnamigen Erzählung von Oscar Wilde (1854–1900) beschreibt, ist der Pragfriedhof in Stuttgart mit Sicherheit nicht. Er liegt nicht in den Weiten einer englischen Parklandschaft, sondern im Zentrum dieser großen Stadt, unweit vom neu entstehenden Hauptbahnhof, hinter den quadratischen, praktischen und modernen Gebäuden der Banken, der Stadtbibliothek und der beiden Hotels, in denen das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) das Seminar für seine Stipendiatinnen und Stipendiaten im Oktober letzten Jahres organisiert hatte.
Kontrast zur modernen Architektur
Der Pragfriedhof, zur Zeit seiner Entstehung noch außerhalb der Stadt Stuttgart auf der Prag, wie der Höhenrücken nördlich der Innenstadt heißt, bildet in Aussehen und Atmosphäre einen wohltuenden Gegensatz zum Trubel des geschäftigen Zentrums von Stuttgart. Von der Hauptstraße mit vier Spuren für Autos und zwei Gleisen für die Stadtbahn ist auf dem Friedhof kaum etwas zu hören, wenn man seine Hauptachse von der russisch-orthodoxen Kirche am Südende zum einzigen Krematorium Stuttgarts entlanggeht; das enorme, Anfang des 20. Jahrhunderts im Jugendstil errichtete Bauwerk ist die zentrale Feierhalle des Friedhofs. Außerdem bietet die parkähnliche Anlage als wichtige Grünanlage Schutz für Bäume, die hier ihre Äste weit ausbreiten können und so dicht stehen, dass das Gelände nachts kaum auskühlt. Das kommt auch den Tieren zugute, die sich auf dem Pragfriedhof tummeln. Neben vielerlei Vögeln sind das dem Anschein nach vor allem Eichhörnchen.
Begegnungen und Stadtgeschichte
Darauf weist mich eine Spaziergängerin hin, die mich anspricht, als ich das Grab des ersten Bürgermeisters Stuttgarts nach 1945, Josef Hirn (1898–1971), genauer betrachte, weil mir das Wappen der Stadt auf dem Grabstein aufgefallen war. „Es waEduard Mörike r so warm dieses Jahr, dass das die dritte Generation Eichhörnchen ist, deswegen sind sie so fleißig dabei, Vorräte zu sammeln“, verrät sie. Mein Interesse an „ihrem“ Friedhof freut sie so sehr, dass sie mir auch gleich zeigt, wo der Erfinder der Luftschiffe Ferdinand Graf von Zeppelin (1838–1917) und der Lyriker (1804–1875) begraben sind. Vor allem aber führt sie mich zum Grab von Christina Fritz, der Gattin des Bahnhofsaufsehers, die am 1. Januar 1873 gestorben ist. „Das Grabmal hat die Stadt Stuttgart im Januar 2023 zum 150-jährigen Bestehens des Pragfriedhofs herrichten lassen; sie ist die erste Person, die auf dem neu entstandenen Gelände beerdigt wurde“, erklärt mir die Spaziergängerin noch – und fügt nachdenklich hinzu: „Manchmal sollte man wirklich auf einem anderen als seinem Friedhof spazieren gehen.“
Denn auf dem Pragfriedhof, der in seiner Gesamtheit als Kulturdenkmal gilt, liegen bedeutende Stuttgarter aller Religionen, Nationen und Sprachen. Er zeigt die erfolgreiche Offenheit der Stadt während ihrer Geschichte mit Grabsteinen unter anderem in Chinesisch, Griechisch, Kroatisch und auch in Schriftzeichen, die sich nicht erschließen lassen. Der israelitische, heute nicht zugängliche Teil an der Ostseite des Friedhofs erinnert an die Zeit des positiven Zusammenlebens mit den jüdischen Stuttgartern – und mahnt an die Zeit, in der das nicht der Fall war.
Diese Kontinuität, das Finden von und die Erinnerung an Menschen, die zur Geschichte einer Stadt oder Region beigetragen haben, ist in den ehemals deutschen Gebieten in Polen aus verschiedenen Gründen verlorengegangen. In einigen Fällen unwiederbringlich; in anderen Fällen gibt es noch etwas vor dem Vergessen zu retten, für folgende Generationen zu bewahren. Noch ist ein wenig Zeit dafür, die Geschichte in die Zukunft zu tragen.
Uwe Hahnkamp