Emigration nach Deutschland aus Sicht eines polnischen Wissenschaftlers
Es sind mehr Menschen von uns emigriert, als geblieben. Kaum jemand wollte hier bleiben. Warum erhielten dann diejenigen, die auswandern wollten, keine Erlaubnis, während andere, die bleiben wollten, manchmal zwangsweise abgeschoben wurden? Polnische Wissenschaftler haben sich erst vor kurzem dieser Frage wissenschaftlich angenommen – besser spät als nie.
Drei Wellen der Umsiedlung
Wie viele Spätaussiedler verließen Polen nach Westdeutschland? Mindestens 1,5 Millionen zwischen 1950 und 1991. Die polnische Forschung hatte sich bisher kaum zu diesem Thema geäußert. Zu den wenigen Wissenschaftlern, die sich damit beschäftigt haben, gehört Professor Ryszard Kaczmarek, Historiker an der Universität Schlesien. Am 17. Oktober fand im Polnischen Haus in Allenstein ein Treffen mit ihm statt, bei dem auch sein neues Buch „Bin ich ein Deutscher? Umsiedler aus Polen in die BRD und die DDR in den Jahren 1950–1991“ vorgestellt wurde.
Die Auswanderungen von Polen nach Deutschland lassen sich, abgesehen von den erzwungenen Aussiedlungen von Deutschen unmittelbar nach dem Krieg bis 1947, in drei Wellen unterteilen.
Professor Ryszard Kaczmarek. Foto: lekDie Gomułka–Adenauer-Welle (1956–1959)
Die erste Welle, die die Jahre 1956–1959 umfasste, ging als Gomułka–Adenauer-Abkommen in die Geschichte ein. Sie betraf 300.000 Menschen, deren Motivation vor allem nationaler Natur war – sie fühlten sich überhaupt nicht als Polen.
Die Gierek–Schmidt-Welle (Ende der 1970er Jahre)
Die zweite Welle erfolgte Ende der 1970er Jahre, bekannt als Gierek–Schmidt-Abkommen, und umfasste rund 100.000 Umsiedler. Diese waren diejenigen, die entweder nicht rechtzeitig im Rahmen des Gomułka–Adenauer-Abkommens ausreisen konnten oder nicht freigegeben wurden. Laut Professor Kaczmarek war ihre Motivation inzwischen komplexer: Neben nationalen Gründen spielte auch der wirtschaftliche Aspekt eine Rolle. Der wachsende Unterschied im Lebensstandard überzeugte viele, Polen zu verlassen.
Die 1980er Jahre: die größte Auswanderungswelle
Die 1970er Jahre waren nur ein Vorspiel. In den 1980er Jahren verließen etwa 800.000 Menschen Polen in Richtung Deutschland. Ihre Motivation war laut Professor Kaczmarek hauptsächlich wirtschaftlich: Polen befand sich in einer tiefen Wirtschaftskrise, während Deutschland florierte. Deutschland war zudem Vorbild für Modernität und Freiheit, die persönliche Entfaltung ermöglichte.
Familienzusammenführung und Rückkehr
Die Familienzusammenführung in den 1970er und 1980er Jahren verlief in beide Richtungen. Wie viele zogen von Deutschland nach Polen zurück? Professor Kaczmarek zählte 29 Personen im Ermland. Er betonte außerdem, dass die Familienzusammenführung vor allem drei heutige Woiwodschaften betraf: Schlesien, Oppeln und Ermland-Masuren. Aus schlesischen Städten wie Beuthen, Hindenburg und Gleiwitz emigrierten jeweils etwa 30% der Einwohner. In einigen Landkreisen Ermland-Masurens war die Situation ähnlich.
Politik und Kontrolle bei der Auswanderung
Ältere, Kranke und Arbeitslose ließ Polen in der Regel bereitwillig ausreisen, um Kosten zu sparen. In dünn besiedelten Gebieten mit Arbeitskräftebedarf wurden Menschen oft zurückgehalten oder nur sporadisch freigegeben. Hinzu kam eine politische Dimension: Um 1950 verkündete die polnische kommunistische Propaganda, dass es keine Deutschen mehr in Polen gebe – eine Lüge, die bis zum Ende ihres Bestehens aufrechterhalten wurde und wissenschaftliche Forschung blockierte.
Natürlich gab es Ausnahmen: Wenn einer wichtigen Person aus Warschau ein attraktiv gelegenes Grundstück auffiel, half der Sicherheitsdienst (SB) den Besitzern bei einer schnellen Entscheidung zur Ausreise. Gleichzeitig schikanierte der SB viele, die ausreisen wollten, aber keine Genehmigung erhielten.
Konsequenzen der schnellen Ausreise
Professor Kaczmarek wies darauf hin, dass viele Ausreisen zum Nachteil der Betroffenen erfolgten. Oft waren die Fristen so kurz, dass sie ihr Eigentum nicht verkaufen konnten, wodurch der rechtliche Status ungeklärt blieb. Dies erklärt das heutige Durcheinander bei Eigentumsfragen, besonders in der Region.
Prof. Kaczmarek schloss seinen Vortrag mit der Einschätzung, dass die Umsiedlungen von Polen nach Deutschland ein Beispiel für positive Migration seien. Abgesehen von Einzelfällen führten sie zu vollständiger Integration.
Das Interview mit Professor Kaczmarek führte Dr. Mariusz Korejwo vom Staatsarchiv in Allenstein, das die Veranstaltung organisiert hatte.
Über den Historiker
Prof. Ryszard Jan Kaczmarek (geb. 1959 in Mysłowice) ist polnischer Historiker, Professor der Geisteswissenschaften, Dozent an der Universität Schlesien und Experte für die Geschichte Oberschlesiens im 19. und 20. Jahrhundert. Er ist Autor von Büchern wie „Polen in der Armee des Kaisers“ und „Polen in der Wehrmacht“ sowie von Fachartikeln, u.a. „Die Darstellung der letzten Kriegsmonate sowie Flucht und Vertreibung aus Oberschlesien in der polnischen und der deutschen Geschichtsschreibung“ und „Die deutsche Intelligenz in Oberschlesien in den Jahren 1939–1945“.













