Was bleibt vom Vergangenen? – Christiane Hoffmanns literarische Spurensuche zwischen Flucht, Heimat und Erinnerung
Wie erinnern wir uns an eine Geschichte, die nicht unsere eigene ist – und doch alles mit uns zu tun hat? In ihrem Roman nimmt Christiane Hoffmann ihre Leser:innen mit auf eine ungewöhnliche Reise: 550 Kilometer wandert sie zu Fuß von Schlesien nach Bayern, auf den Spuren ihres Vaters, der diesen Weg 1945 als Kind im Treck gehen musste. Das Buch ist Familiengeschichte, Reisebericht und historische Reflexion zugleich. Es ist ein Versuch, „die Geschichte in die Gegenwart zu holen“, wie die Autorin in einem Interview erläutert.
Die Handlung: Eine Reise gegen das Vergessen
Die Journalistin und Autorin Christiane Hoffmann erzählt in ihrem Buch nicht nur von der Flucht ihres Vaters, sondern begibt sich selbst auf dessen Weg – körperlich wie gedanklich. Sie besucht das ehemalige Rosenthal (heute Różyna), spricht mit Menschen in Polen und Tschechien, begegnet Erinnerung und Schweigen. Der Text ist nicht linear, sondern verwoben: persönliche Reflexionen treffen auf historische Recherchen, Gespräche auf poetisch-reflektierende Einschübe.
Ihr Ziel: verstehen, fühlen, erinnern. „Ich bin deinen Weg gegangen, meine Beine wissen nun, wie weit es war“, schreibt Hoffmann. Am Ende bleibt vor allem das Gefühl, dass Geschichte keine abgeschlossene Vergangenheit ist, sondern immer auch Gegenwart und Zukunft beeinflusst.

Heimat als Sehnsuchtsort: Ein ambivalenter Begriff
„Heimat war Rosenthal, Heimat gab es nicht.“ Der Begriff Heimat durchzieht das gesamte Buch als etwas Verlorenes, Mythisches, mitunter Unwirkliches. Schlesien wird zur „untergegangenen Provinz“, zum „Sehnsuchtsland“, wie Hoffmann schreibt. Für viele Schlesier:innen, auch für Hoffmanns Vater, bleibt Heimat ein Ort, der nicht mehr existiert – und der in der Erinnerung oder Vorstellung weiterlebt. Die Landschaften, die Hoffmann durchwandert, sind ihr fremd und zugleich vertraut. Immer wieder fragt sie sich, ob Heimat nicht doch mehr ist als nur ein Konstrukt oder Mythos. Sie schreibt: „Vielleicht ist Heimat doch ein Ort. Warum sonst berührt mich diese Landschaft, als würde ich sie schon ewig kennen?“
Zugleich bleibt Heimat ungreifbar – besonders für die Nachgeborenen. Hoffmanns Tochter etwa sagt, sie brauche keinen Ort, um sich zugehörig zu fühlen – sie habe eine Familie. Doch auch sie interessiert sich für die Geschichte: „Die Fluchtgeschichte ist Familienerbe“, stellt Hoffmann fest. Heimat ist damit nicht nur ein geografischer Ort, sondern ein emotionaler und transgenerationaler Raum.
Flucht, Vertreibung und die Geschichte Schlesiens: Geteiltes Leid
Das Buch erinnert daran, dass Flucht nach 1945 kein ausschließlich deutsches Schicksal war. In Schlesien wurden nicht nur Deutsche vertrieben – auch viele Polen waren selbst aus den Ostgebieten geflohen oder wurden zwangsumgesiedelt. Hoffmann schreibt: „Die verlorene Heimat verband uns mit den Piwińskis, wir teilten ein Schicksal. Wir waren alle Opfer. In diesem Krieg hatten alle gelitten.“
Die Autorin beschreibt ein entvölkertes Schlesien, das nach dem Krieg mit anderen Menschen „neu befüllt“ wurde. „Menschen kann man umsiedeln, umgießen wie eine Flüssigkeit“, schreibt sie, und macht so deutlich, wie willkürlich und fremdbestimmt diese Verschiebungen für die Betroffenen gewesen sein müssen.
Intergenerationale Traumata: Das Unsagbare wirkt nach
Einer der stärksten Aspekte des Buches ist die Auseinandersetzung mit dem Schweigen. „Der Schmerz, über den in meiner Kindheit geschwiegen wurde“, ist für Hoffmann allgegenwärtig. Sie spricht vom „Pakt des Schweigens“, den viele Kriegskinder und -enkel kennen. Die Generation ihrer Eltern hat über das Erlebte kaum gesprochen – nicht, weil es unwichtig war, sondern weil es zu schmerzhaft war.
Christiane Hoffmann verbindet Geschichte und Gegenwart zu einer leisen, literarischen Wanderung gegen das Vergessen.
„Heute weiß man, dass Traumata weitergegeben werden“, schreibt Hoffmann. Krieg und Flucht schreiben sich in Körper und Psyche ein – bis in die dritte Generation. Viele Kriegsenkel spüren diese Belastung, ohne sie klar benennen zu können. So wird Erinnerung zur Aufgabe: „Es ist meine Aufgabe, deine Geschichte zu erzählen […], die Erinnerung zu speichern, zu konservieren, einen Vorrat für kommende Generationen anzulegen.“
Erinnerung als Verantwortung – und als Brücke
In einer Zeit, in der Erinnerungskultur zunehmend umkämpft ist, setzt Hoffmann ein Zeichen gegen das Vergessen. Ihre literarische Spurensuche zeigt, wie komplex Geschichte ist – und wie wichtig es ist, die Perspektiven zu erweitern. „Wir glauben, dass wir mit der Vergangenheit fertig sind, weil wir alles benannt und bereut haben“, schreibt sie – und stellt dann doch die Frage: „Wie weit sind wir eigentlich?“
Dabei geht es nicht darum, Schuld zu relativieren oder Opfer zu überbieten. Es geht um eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Ambivalenzen zulässt: „Alle wollen Opfer sein, Helden oder Opfer, nur nicht Täter“, heißt es im Buch. Die Geschichte ist nicht schwarz-weiß – sie ist vielstimmig, widersprüchlich und schmerzlich aktuell.
Gehen, um zu erinnern
Christiane Hoffmanns Buch ist ein kraftvoller Beitrag zur Erinnerungskultur. Es vereint persönliche Geschichte mit politischer Analyse, Empathie mit intellektuellem Tiefgang. Es ist literarisch und dokumentarisch zugleich – und offenbart dabei die Vielschichtigkeit eines Themas, das unsere Vergangenheit ebenso betrifft wie unsere Gegenwart.
„Du musst vergessen, um leben zu können“, meinte ihr verstorbener Vater einst zu Christiane Hoffmann. Doch sie selbst geht den anderen Weg: Sie erinnert, sie erzählt, sie verbindet. Und macht damit deutlich, dass Erinnern kein Selbstzweck ist, sondern Voraussetzung für eine gemeinsame Zukunft.
Das Buch wurde 2022 vom Verlag C.H. Beck veröffentlicht. Es ist in deutscher sowie in polnischer Sprache unter anderem auf Amazon erhältlich: Alles, was wir nicht erinnern: Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters : Hoffmann, Christiane: Amazon.de: Bücher
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