Bei dieser Katastrophe starben mehr Menschen als beim Untergang der Titanic. In der Nacht des 30. Januar 1945 kamen fast 7.000 Menschen, die vor der Roten Armee aus Ostpreußen flohen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, in den eisigen Fluten der Ostsee mit dem Schiff „Wilhelm Gustloff“ ums Leben. Diese tragischen Ereignisse liegen nun schon 80 Jahre zurück.
Das beeindruckend große Schiff wurde 1937 auf der Hamburger Werft gebaut. Es wurde zu Ehren des 1936 ermordeten NSDAP-Mitglieds „Wilhelm Gustloff“ getauft. Der Stapellauf des Flaggschiffs der deutschen KdF (Kraft durch Freude) fand im Beisein Hitlers statt. Taufpatin war die Witwe von Wilhelm Gustloff, seinerzeit Sekretärin des Führers. Das Schiff war mehr als 200 Meter lang und konnte fast 1.500 Passagiere und 500 Besatzungsmitglieder an Bord nehmen. Es war das fünftgrößte deutsche Passagierschiff. Bis August 1939 hatte es etwa 50 Fahrten unternommen, hauptsächlich im Mittelmeer und in norwegischen Gewässern.
Hilfsschiff der Kriegsmarine
Bei Kriegsausbruch wurde es zu einem Lazarettschiff umgebaut und später von der Kriegsmarine als Hilfsschiff übernommen. Es wurde zum Truppentransport eingesetzt, war mit Flugabwehrkanonen und Wasserbombenwerfern ausgerüstet. Auf ihrer letzten Reise stach die „Wilhelm Gustloff“ am Nachmittag des 30. Januar 1945 von Gdingen/Gdynia aus in See. An Bord befanden sich 173 Besatzungsmitglieder, 918 Offiziere und Matrosen und 373 Frauen des Hilfskorps der Kriegsmarine, 162 verwundete Wehrmachtssoldaten sowie 4.424 Flüchtlinge, darunter Junker, Gestapo-Männer, Polizisten, NSDAP-Aktivisten und die Familien von NS-Funktionären. Insgesamt befanden sich zehntausend Menschen an Bord, doppelt so viele, wie das Schiff theoretisch aufnehmen konnte. Bei den Passagieren handelte es sich hauptsächlich um Frauen und Kinder. Da jedoch auch 1.500 Militärangehörige an Bord waren, kennzeichnete die Kriegsmarine das Schiff nicht als ziviles Schiff.
Apokalypse an Bord
Die „Gustloff“ fuhr im Konvoi mit einem zweiten Schiff namens „Hansa“ und dem Torpedoboot „Löwe“ sowie dem Torpedofänger TF1. Sie war auf dem Weg nach Kiel in Norddeutschland, dreihundert Kilometer westlich von Swinemünde/Świnoujście. Zwei Stunden später verfolgte ein sowjetisches Kriegsschiff am Rande der Halbinsel Hela die „Gustloff“ und feuerte kurz nach 21 Uhr Torpedos ab. Der erste Torpedo zerriss die Bugpanzerung, der zweite traf die Schiffsmitte in Höhe des Schwimmbeckens, der dritte den Maschinenraum. Die Explosionen lösten eine große Panik aus. Das Schiff, das in der Mitte getroffen wurde, begann schnell Wasser zu ziehen und kippte sehr schnell auf die Backbordseite. Von den Frauen des Hilfsdienstes, die auf dem Grund des abgelassenen Beckens kaserniert waren, überlebten nur zwei. Die Passagiere wurden auf das mit Panzerglas verglaste Promenadendeck umgeleitet, von wo aus es unmöglich war, an Bord zu gelangen. Auf dem Schiff gab es keine Rettungsboote und einige der vorhandenen Boote konnten wegen eingefrorener Davits nicht ins Wasser gelassen werden. Die mit Menschen überladenen Rettungsboote kippten in den Wellen um. An Bord spielten sich apokalyptische Szenen ab: Es wurde um Zugang zu den Booten gekämpft, es gab Schlägereien, Schüsse wurden abgefeuert, darunter auch Selbstmordschüsse. Jeder, der ins Wasser fiel, starb innerhalb weniger Minuten an Unterkühlung. Gegen 22:25 Uhr, 65 Minuten nach dem Torpedoschuss, versank das Schiff vollständig im Meer.
Verspätete Rettung
Die zur Rettung eintreffenden deutschen Einheiten konnten nur noch 1.215 lebende Opfer aus dem Wasser bergen. Die Zahl der Opfer der Katastrophe wird laut Dokumenten mit 6.600 angegeben, aber es ist möglich, dass es noch mehr waren. Abgesehen von einigen Dutzend Menschen, die bei der Explosion der Torpedos starben, erfroren die meisten Opfer im Wasser. Die Torpedierung eines Hilfsschiffes, das in einem Konvoi von Kriegsschiffen fuhr, entsprach jedoch den Kriegsgesetzen. Schuld waren die Fehler der Schiffsführung, die ein bewaffnetes MW-Hilfsschiff zur Evakuierung von Zivilisten einsetzte, es stark überladen ließ und mit einer Eskorte auf die Fahrt schickte.
Die Wilhelm Gustloff-Katastrophe im Roman „Hanemann“ von Stefan Chwin
Ein apokalyptisches Bild des Schiffbruchs der Wilhelm Gustloff findet sich in dem 1995 erschienenen Roman „Hanemann“ des Danziger Schriftstellers Stefan Chwin. Die Titelfigur ist ein deutschstämmiger Danziger Anatomieprofessor, der nach dem Tod seiner Verlobten bei einem Schiffsunglück in eine tiefe existenzielle Krise gerät.
Er wird Zeuge der kriegsbedingten Zerstörung Danzigs, bleibt aber dennoch in der zerstörten, von Polen und Russen besetzten Stadt. Die alte Welt erscheint dem Leser in den detaillierten Beschreibungen der reich ausgestatteten Danziger Häuser, die von den fliehenden deutschen Eigentümern zurückgelassen wurden; die neue Welt hingegen ist ein Bild des Nachkriegslebens mit dem typischen Verhalten und der Mentalität der neuen Siedler, hauptsächlich Umsiedler aus dem Osten, für die Danzig nur eine fremde Stadt ist, deren Wurzeln weit über die Grenzen ihrer kulturellen Wahrnehmung hinausreichen. Der Roman liegt im Trend der Grenzlandliteratur, die sich mit dem komplizierten Thema der zwischenmenschlichen Beziehungen in multinational und multikulturell strukturierten Gemeinschaften oder Gebieten beschäftigt.
Stefan Chwin – der Barde von Danzig
Stefan Chwin ist nicht nur Schriftsteller und Literaturkritiker – er arbeitet auch als akademischer Lehrer an der Universität Danzig, ist Grafiker und sammelt Mineralien, alte Landkarten, Stiche und Fotografien (insbesondere Wolkenbilder).
Stefan Chwins Vater stammte aus Vilnius, seine Mutter aus Warschau. Als die Geschichte sie 1945 zwang, ihre Heimat zu verlassen (das Warschauer Haus seiner Mutter brannte während des Krieges ab, Vilnius lag außerhalb der polnischen Grenzen), landeten beide – ganz unabhängig voneinander – in Danzig. Dort lernten sie sich kennen und am 11. April 1949 wurde ihr Sohn Stefan in einem ehemaligen deutschen Haus in Danzig-Oliva geboren. Der Schriftsteller beschrieb seine Kindheit immer wieder als idyllisch, obwohl seine Eltern sehr unterschiedliche Temperamente hatten: Sein Vater galt als mürrischer, stiller Litauer, seine Mutter als energische, künstlerisch begabte Warschauerin.
Stefan Chwins Kindheit war in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Der Schriftsteller wuchs im Nachkriegs-Danzig auf, einer ihm kulturell fremden Stadt, die von seinen Eltern (Umsiedlern) zufällig als Wohnort ausgewählt wurde. Der Junge erkundete die Stadt und fand Spuren der Vergangenheit. Er versuchte, sich mit dem unbekannten Raum vertraut zu machen und seine Identität aufzubauen. Die Aufzeichnung dieser Erkundungen findet sich in dem autobiografischen Werk „Krótka historia pewnego żartu“, das die Merkmale eines Romans, einer Geschichte und eines Essays vereint. Es ist eine Erzählung über die Kindheit und Jugend eines Jungen im Nachkriegs-Danzig, einer Grenzstadt, in der die Interessen und Einflüsse der polnischen und deutschen Kultur sowie der Kulturen, die mit den Umsiedlern von jenseits des Bugs und aus Zentralpolen kamen, aufeinanderprallten.
Sein nächster Roman „Hanemann“ aus dem Jahr 1995, der ebenfalls in Danzig spielt, bescherte dem Autor Popularität und zahlreiche Auszeichnungen. Chwins Prosa verbindet zutiefst persönliche und nostalgische Töne mit einer breiten Dimension des historischen Wandels. Eine seiner Hauptbotschaften besteht in der Erinnerung daran, dass angesichts historischer Umwälzungen und des Untergangs der alten Welt das menschliche Individuum mit seinen Gefühlen, Sehnsüchten und Erinnerungen am wichtigsten ist.