Wiktoria Ernst erzählt die Geschichte von Eva-Dorothea von Kleist-Retzow
Mit Wiktoria Ernst, Marketing-Spezialistin am Schloss Moschen, sprach Andrea Polanski über ihre Faszination für das Schloss sowie über ihr Buch „Das Leben auf dem Schloss / Życie na zamku“ über Eva-Dorothea von Kleist-Retzow.
Woher kommt bei dir die Faszination für das Schloss und seine Legenden?
Das hat schon in meiner Schulzeit angefangen. Ich wohne im Dorf nebenan und bin oft mit dem Fahrrad zum Schloss gefahren. Mein erster Ferienjob war es, Führungen durch das Schloss zu machen. Ich konnte mein erstes Geld verdienen, und gleichzeitig hat mich die Atmosphäre dieses Ortes einfach mitgerissen. Nicht nur die Besucher, sondern vor allem die Menschen, die hier arbeiten, sind unglaublich freundlich. Wir sind wie eine große Familie, und sie haben ihr Wissen und ihre Geschichten mit mir geteilt. Über die Jahre habe ich immer mehr über das Schloss erfahren. Vieles wissen wir von Menschen, die früher hier gearbeitet haben. Früher wurde über die Vergangenheit kaum gesprochen – sie war zu schwer. Doch inzwischen öffnen sich die Menschen, und die Enkel beginnen wieder zu fragen, wie es damals war. Heute arbeite ich nicht nur am Wochenende, sondern auch unter der Woche im Marketingbereich des Schlosses.
Hast du eine Lieblingslegende, die mit dem Schloss verbunden ist?
Ja, meine Lieblingsgeschichte ist die der Familie von Tiele-Winckler. Obwohl sie sehr wohlhabend waren, waren sie doch eine ganz normale, bodenständige Familie. Besonders berührt mich die Liebesgeschichte der Eltern des Grafen – Valeska und Hubert.
Valeska von Winckler war eine reiche Frau, sie besaß zahlreiche Bergwerke und Minen in Schlesien. Hubert von Tiele dagegen war ein hochgeborener, aber armer preußischer Oberst. Die beiden lernten sich in Deutschland auf einer kleinen Insel kennen. Als Valeska später eine Reise durch die Mittelmeerländer plante, entschied sich Hubert spontan, sie zu begleiten. Er kaufte sich aus der Armee frei und gab sein letztes Geld für das Schiffsticket aus. Von dieser Reise kehrten sie schließlich verlobt zurück und gemeinsam bekamen sie neun Kinder – eine wirklich wunderschöne Liebesgeschichte. Schon damals kauften sie Moschen, wo zu jener Zeit nur ein kleines Jagdschlösschen stand. Ihr ältester Sohn, Franz Hubert von Tiele-Winckler, entschied später, das Schloss auszubauen und den Familiensitz von Miechowitz nach Moschen zu verlegen.
Diesen Herbst erscheint dein Buch „Das Leben auf dem Schloss / Życie na zamku“ über Eva-Dorothea von Kleist-Retzow. Wer ist sie?
Eva-Dorothea von Kleist-Retzow ist die Tochter von Hans Werner von Tiele-Winckler, dem letzten Besitzer des Schlosses Moschen. Hans Werner musste 1945 mit seiner Familie vor der heranrückenden Roten Armee fliehen. Später stellte sich heraus, dass seine Tochter, Frau Eva-Dorothea, heute in Deutschland lebt. Sie ist inzwischen 95 Jahre alt und erinnert sich immer noch lebhaft an die Sommer, die sie als kleines Mädchen auf dem Schloss verbrachte.
Im vergangenen Herbst besuchte die Familie von Tiele-Winckler nach vielen Jahren wieder das Schloss. Sie pflegen eine Familientradition, sich einmal im Jahr irgendwo auf der Welt zu treffen, und dieses Mal fiel die Wahl auf Moschen. Sie wollten ihren Kindern zeigen, wo ihre Wurzeln liegen, und ihnen die Geschichte ihrer Vorfahren näherbringen. Die Familie ist weit verstreut – sie lebt in München, Berlin, Köln und zum Teil sogar in Italien.
Sie verbrachten mehrere Tage hier, erkundeten die Region, und ich durfte sie persönlich durch die Schlossräume führen. Dabei war es besonders spannend, denn einige Familienmitglieder korrigierten Details in unseren Erzählungen – so konnten wir manche Legenden berichtigen und mit neuen Informationen ergänzen.
Während dieses Besuchs lernte ich auch die Familie Pho Duc aus München kennen – Nachkommen von Eva-Dorothea. Eine ihrer Töchter erzählte mir, dass die beiden Löwenstatuen auf der Innenterrasse des Schlosses sogar Namen haben: Joko und Hans. Diese Namen hatten Eva-Dorothea und ihre ältere Schwester den Löwen einst gegeben. Jede hatte ihren eigenen Löwen, auf den sie als Kinder sogar steigen durften. Da war für mich klar: Dieses Wissen darf nicht verloren gehen. Also nahm ich Kontakt mit der Familie auf, und wenig später organisierten wir ein Online-Meeting. So entstand schließlich auch die Idee, ihre Erinnerungen in einem Buch festzuhalten, damit die Geschichte des Schlosses Moschen und seiner Bewohner lebendig bleibt.
Und wie hat sich dann die Materialsammlung für das Buch weiterentwickelt?
Es blieb nicht bei einem Interview – am Ende wurden es drei. Nach dem ersten Gespräch war ich völlig fasziniert, wie viel Frau Eva-Dorothea noch wusste und an wie viele Details sie sich erinnerte. Ich fragte zum Beispiel nach einem bestimmten Raum, und sie antwortete sofort: „Ja, das war unser Esszimmer – dort gab es einen Drehschrank.“ Und tatsächlich, genau dort steht er bis heute. Mich hat beeindruckt, wie lebendig ihre Erinnerungen geblieben sind, selbst an Kleinigkeiten.
Noch dazu war sie unglaublich offen und bereit, über ihre Vergangenheit zu sprechen, obwohl sie als Kind den Krieg und die Flucht vor der Roten Armee miterlebt hat. Das erste Gespräch dauerte über eine Stunde, und am Ende sagte ich: „Ich habe aber noch viele Fragen.“ Sie lachte und meinte: „Dann machen wir eben noch ein Gespräch.“
Wiktoria Ernst hat ein Buch über Eva-Dorothea von Kleist-Retzow geschrieben.Foto: A. Polanski
Zwischen den Interviews habe ich mir Zeit genommen, weitere Fragen vorzubereiten. Ich fragte auch mein Team hier im Schloss, was sie gerne von Eva-Dorothea erfahren würden. Das zweite Interview fand kurz vor Weihnachten statt, und wir sprachen über zwei Stunden lang. Sie erzählte viel über ihre Familie, über ihre Jugendzeit und über das Leben auf dem Schloss – es war ein sehr warmes, persönliches Gespräch. Ein drittes Interview folgte nach den Feiertagen. Dieses letzte Gespräch diente vor allem dazu, noch einmal Details zu klären, Themen zu vertiefen und das Bild abzurunden. Besonders wichtig war uns dabei der Teil über das Schloss selbst – für viele Menschen in der Region ist es ein vertrauter Ort, doch nur wenige kennen die ganze Geschichte dahinter.
Dein Buch ist zweisprachig, und die Leserinnen und Leser finden darin nicht nur die Interviews mit Frau Eva-Dorothea.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil ist komplett auf Deutsch geschrieben, der zweite eine polnische Übersetzung. Ich wollte damit sowohl Leserinnen und Leser aus Deutschland als auch aus Polen ansprechen – schließlich handelt es sich um eine gemeinsame Geschichte. Ergänzt wird der Text durch Archivfotos aus der privaten Sammlung von Eva-Dorothea von Kleist-Retzow. Darauf sieht man sie als Kind, aber auch verschiedene Räume und Gegenstände aus dem Schloss Moschen.
Sowohl die deutsche als auch die polnische Version sind jeweils in drei Kapitel unterteilt, passend zu den drei Interviews. Der erste Teil behandelt grundlegende Informationen und Erinnerungen an das Leben auf dem Schloss. Der zweite konzentriert sich auf das Leben von Eva-Dorothea selbst. Im dritten Teil kehren wir wieder zum Schloss zurück – dort erzählt sie zum Beispiel, wie Weihnachten damals gefeiert wurde.
Am Ende des Buches gibt es noch einen besonderen Abschnitt: einige Seiten aus dem Tagebuch von Eva-Dorothea, das sie während der Flucht schrieb. Als die Rote Armee nach Ostdeutschland, nach Mecklenburg, vorrückte, musste die Familie auch dort ihr Gut verlassen. Das „Trecken“, also das Fliehen mit Wagen, war damals verboten. Dennoch machten sich Eva-Dorothea, ihre ältere Schwester und ihr jüngerer Bruder mit einem kleinen Pferdewagen und Fahrrädern auf den Weg. Diese eindrücklichen Erinnerungen bilden den bewegenden Abschluss des Buches.
Das Buch von Wiktoria Ernst erscheint diesen Herbst im Verlag Silesia Progress: www.silesiaprogress.com
Das Buch entstand im Rahmen des Projekts „Wielokulturowe“ als Aufgabe des Vereins „Sukces po Opolsku“. Die Aufgabe „Śladami przeszłości: Wielokulturowe Opolskie – historia, która żyje“ wird aus Mitteln der Selbstverwaltung der Woiwodschaft Opolski mitfinanziert.















