Omas Aquarium
Es ist keine leichte Aufgabe, die Kinder von heute in Schreck zu versetzen. Geister, Monster, mörderische Bösewichter sind ein Teil der TikTok-Kultur geworden, so alltäglich und ungefährlich wie Disney-Prinzessinnen. Und jedes Mädchen will zu Halloween Wednesday sein.
Ich dagegen war ein sehr schreckhaftes Kind. Wenn ich schlafen ging, musste das Licht anbleiben. Keine zehn Pferde hätten mich dazu gekriegt, nachts allein eine Treppe zu besteigen. Ich war überzeugt: Jemand schnappt mich von hinten. Bringt mich um – bestenfalls. Schlimmstenfalls entführt er mich und foltert mich. Meine Fantasie war gnadenlos.
Wovor ich aber die meiste Angst hatte, war das künstliche Gebiss meiner Oma. Es schwamm in einem Glas Wasser wie ein Monsterfisch. Das Glas stand immer auf dem Nachtisch. Das Glas voller Zähne. Das Glas, das auf mich lauerte.

Ich beobachtete das Gebiss mit Ekel und Furcht. Irgendwann war ich sicher: Es springt heraus und beißt mich. Wie gesagt – ich war ein schreckhaftes Kind. Fasziniert sah ich zu, wie Oma das Gebiss in den Mund legte und es auf einmal ein Teil von ihr wurde. Alien-Zähne in Omas Mund. Und sie sprach danach auch anders – klarer Beweis, dass die fremde Lebensform Macht über sie ergriffen hatte.
Das Gebiss war für besondere Anlässe: Kirchengang, Einkaufen, Besuch. Ansonsten schwamm es friedlich in seinem Aquarium und lauerte.
Jetzt, wo ich darüber nachdenke: Vielleicht ist es gar nicht so schwer, Kinder zu erschrecken. Man braucht nur das richtige Monster. Meins stand im Glas auf Omas Nachttisch – und klapperte, ganz ohne Geräusch.