Nicht nur eine ausgewählte – wir brauchen die ganze Geschichte!

wochenblatt.pl 2 godzin temu
Zdjęcie: Mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichneter Dr. Maciej Łagiewski. Foto: Muzeum Miejskie Wrocławia


Dr. Maciej Łagiewski zum Siebzigsten

Heute ist Maciej Łagiewski Direktor des städtischen Museums in Breslau. Er gestaltet aber seit Jahren die Geschicke seiner Stadt mit. So war er etwa an der Wiedereinführung des historischen Breslauer Wappens maßgeblich beteiligt. Nun wird er 70 – eine Gelegenheit für einen Rückblick.


Es ist der 8. Mai 1955. Draußen durchdringt der Lärm der Parade zum zehnten Jahrestag des Sieges die Luft über Breslau/Wrocław. In einer Wohnung im südlichen Stadtteil Kleinburg/Borek wird ein Knabe geboren. Im Hinblick auf das Geschehen draußen meint die Hebamme: Das wird ein General! Der Knabe wurde es jedoch nicht. (Sein Schlafzimmer ist übrigens heute noch dasselbe Zimmer, in dem er das Licht der Welt erblickte.) Dieses besondere Datum wurde dennoch lebensbestimmend, weit über den reinen Geburtstag hinaus: Maciej Łagiewski wurde nach dem Jurastudium in seiner Heimatstadt und später der Promotion im Fach Kunstgeschichte Historiker und wirkt seit vielen Jahren als inspirierter und inspirierender Direktor des Städtischen Museums mit all seinen Filialen in der Oderstadt.

Seine Eltern stammten aus Kujawien. Der Vater kam aber schon als Kind nach Gnesen/Gniezno. Dieser besondere Ort, erste polnische Hauptstadt, wurde zur Wiege der Familie Łagiewski. Der alles verändernde Zweite Weltkrieg führte die Eltern kurz nach dessen Ende nach Breslau. Maciej wächst hier in einer historisch verwurzelten Familie auf. Die Wände zieren Bilder der großen patriotischen Historienmaler Artur Grottger und Jan Matejko; Gespräche über die polnische Geschichte sind an der Tagesordnung, während draußen noch unzählige Kubikmeter Trümmer des einst deutschen Breslau die Wege durch die Stadt säumen.

Einsatz für den Alten Jüdischen Friedhof

Hier schärfte sich sein Sinn für den entsetzlichen Widerspruch von Grauen und Schönheit. Das Schicksal der Generation seiner Eltern schärfte seinen Blick für das wirkliche Leben hinter der Fassade offiziell verkündeter Parolen. Eben genau hier schärfte sich sein Sinn für Geschichte. Mutter und Vater ruhen auf dem Gräbschener Friedhof, gegenüber im Park gibt es seit 2008 den berührend eingerichteten Gedenkort für alle früheren Breslauer, ein Monumentum Memoriae Communis.

Als Elfjähriger beobachtet Maciej intensiv, wie nahe der Wohnung auf dem Alten Jüdischen Friedhof an der Lohestraße/Ślężna Dreharbeiten für die polnische Filmserie „Vier Panzersoldaten und ein Hund“ laufen. Der gute Ort des Breslauer Judentums hatte die Zeit bittersten Auslöschungswahns und den Krieg wie durch ein Wunder überdauert und sollte nun einen katholischen Friedhof einer polnischen Stadt darstellen. Ende der 1980er Jahre wird Maciej Łagiewski zum Initiator der Rettung dieses einzigartigen Ortes, heute als Außenstelle des Städtischen Museums für alle begehbar. Das Verhältnis zu vielen der hier Ruhenden hat längst die Form eines vertrauten Zwiegesprächs angenommen. Schmerzen im Rücken und in den Hüftgelenken, die ihn heute immer wieder heimsuchen, rühren her von der Last der Grabsteine, von denen er viele selbst wieder aufrichten half.

Rückkehr zum historischen Stadtwappen

Sucht man nach einschneidenden Jahren in der beruflichen Laufbahn, so sind unbedingt 1990, 1991 und 2009 zu nennen. Der schmerzlich erfahrene, aber aktiv angegangene und bewegende Freiheitskampf der Polen eröffnete plötzlich ungeahnte Welten. So kommt dem in historischen Dimensionen denkenden Maciej Łagiewski die Idee, rasch den Vorschlag für die Wiedereinführung des alten, bereits 1530 genehmigten Breslauer Stadtwappens zu unterbreiten. Das 1990 erst seit relativ kurzer Zeit agierende, demokratisch gewählte Stadtparlament stimmt zu – wenn auch knapp. Immerhin wurde damit rückgängig gemacht, was zwei Diktaturen zuvor daran verunstaltet hatten. Bogdan Zdrojewski war damals Stadtpräsident (Oberbürgermeister), später viele Jahre Kulturminister Polens.

Und dann das Jahr 1991: Maciej Łagiewski wird Direktor des Historischen Museums mit Sitz im Breslauer Rathaus. (An dessen Südfassade befinden sich zahlreiche große neogotische Skulpturen, vorwiegend Arbeiten aus der Bildhauerwerkstatt von Christian Behrens aus den Jahren um 1890. Wer am Eingang zum Schweidnitzer Keller rechts nach oben schaut, wird bei der Gestaltung des Gesichts einer Figur eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Direktor feststellen.) Im gleichen Jahr erhält er den Sonderpreis des Kulturpreises Schlesien des Landes Niedersachsen – der erste polnische Preisträger der seit 1977 jährlich an um Schlesien Verdiente verliehenen Ehrung!

Galerie Großer Breslauer, Bremer Schatz und Königsschloss

Treffend seine Idee, im Bürgersaal des Breslauer Rathauses eine Galerie der Büsten Großer Breslauer zu etablieren. Inzwischen sind es über dreißig Persönlichkeiten aus den Jahrhunderten seit Heinrich dem Bärtigen und der Hl. Hedwig von Schlesien.

Eröffnung des Museums im Königsschloss am 19. April 2009 (v.l.): Stadtpräsident Rafał Dutkiewicz, die Direktorin im Amt für städtische Investitionen, Frau Urszula Badura, Museumsdirektor Maciej Łagiewski, Kulturminister Bogdan Zdrojewski
Foto: Muzeum Miejskie Wrocławia

Einem Paukenschlag gleich kam die Rückerwerbung von kostbaren Goldschmiedearbeiten aus Breslauer Werkstätten. Als „Bremer Schatz“ bekannt, konnten die Einwohner Breslaus im Jahr 2006 motiviert werden, eine hohe Geldsumme zu spenden, damit die Kunst wieder an ihren Ursprungsort gelangen konnte.

Und dann – geizen wir nicht mit großen Worten – so etwas wie ein Opus summum: Das Museum zur Stadtgeschichte im Königsschloss (Palais Spaetgen), an dem er mit seinen Mitarbeitern über viele Jahre gearbeitet hat. Im April 2009 durchtrennten er, seine Stellvertreterin, Stadtpräsident Rafał Dutkiewicz und Kulturminister Bogdan Zdrojewski das Band zur Übergabe an die neugierige Öffentlichkeit. Das Haus ist seitdem ein authentischer und im guten Sinne spannungsgeladener Treffpunkt der Kulturen der Oderstadt mit ihren beklagenswerten Abgründen, Tragödien und großartigen Höhen.

Wenn es um eine transnationale Sicht auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Schlesiens geht, gehörte Dr. Maciej Łagiewski zu den ersten wahrnehmbaren Stimmen, als ringsumher noch Alleinvertretungsrufe und bitter rivalisierende Identitäten dominierten. Auf der immerwährenden Suche nach dem kulturellen Gedächtnis des Ortes Breslau wird man Gewissheiten zuverlässig nicht ohne das Wirken unseres Jubilars erlangen.

Dazu ein kleines Beispiel: Als es vor über zehn Jahren darum ging, den nordwestlichen Teil des alten Schlossplatzes (Plac Wolności) im Umfeld des neuen Konzerthauses zu gestalten, schlug wieder so eine Sternstunde. Hier stehen noch zwei Anbauten des alten Stülerbaus. Nach stilvoller Sanierung zu einem Theatermuseum umgestaltet, lädt es seit 2016 ein, die Theatergeschichte der Oderstadt zu erkunden. Für die östliche Fassade, dort, wo Stülers in den 1960er Jahren von Ideologen gesprengter Hauptflügel anschloss, wurde eine künstlerische Lösung, ein Blickfang, gesucht.

Immerwährende Suche nach Gemeinsamkeiten

Sehr teure, verführerische Vorschläge lagen auf dem Tisch. Schließlich aber sollte die Idee von Maciej Łagiewski zur Ausführung kommen: Theodor von Gosens Kopf des Orpheus als vergrößerte Replik in Bronze (Original in Gips im Museum Königsschloss) – Orpheus, der mit seinem Gesang die Götter betörte und selbst Felsen zum Weinen brachte… Das Theatermuseum trägt den Namen des genialen Mimen Henryk Tomaszewski (1919–2001), der sich unter anderem auch vom Orpheus-Stoff begeistern ließ. Plastiken von Gosen (1873–1943) sind im heutigen Breslau an mehreren Stellen zu bestaunen. Und plötzlich steht da wieder eine Brücke von Breslau nach Wrocław, belastbar in beide Richtungen.

Maciej Łagiewski geht es nicht um eine übergriffige kulturelle Aneignung deutschen Erbes. Es geht vielmehr um eine immerwährende Suche nach gemeinsamen Bezugspunkten und die Würdigung einer gemeinsamen Geschichte in einem Landstrich, in einer Stadt der sich kreuzenden Identitäten.

Zwei Buchprojekte der letzten Zeit dürfen nicht unerwähnt bleiben: Einmal der Führer durch alle Abteilungen des Städtischen Museums, der in polnischer und in deutscher Version vorliegt. Reich bebildert und optimal im Text, ersetzt er nicht den Besuch der Museen, steht aber als Dokument für die hervorragende Arbeit des Direktors und seiner Mitarbeiterinnen. Vor Kurzem erschien ein kostbarer großformatiger Kunstband zur schlesischen Malerei von der Romantik bis 1945 – Bilder aus den Beständen des Städtischen Museums, Odwieczne piękno – Ewige Schönheit. Die deutsche Ausgabe soll noch in diesem Jahr erscheinen. Ad multos annos – Auf viele Jahre noch, lautet eine alte gute Formel. Auf Polnisch kann man da schon konkreter werden: Sto lat niech żyje nam – Hundert Jahre möge er uns leben!

Episoden zum Atem anhalten – und Schmunzeln

Museumsdirektor Maciej Łagiewski organisiert auch viele Sonderausstellungen mit Künstlern von Weltrang. Zur Eröffnung zweier Salvador Dalí gewidmeter Ausstellungen kam er mit einer echten Boa um den Hals: „Ich habe den Kopf so festgehalten, dass ich sie fast umgebracht habe, selbst den Schweiß habe ich der Schlange abgetupft.“ Ein anderes Mal ritt der Direktor auf einem Kamel in den Bürgersaal des Breslauer Rathauses. (Das erste, das wohl jemals das Rathaus betrat – und es dann auch artgerecht verunreinigte…)

Die Idee dieses Ortes besteht darin, die Geschichte von neurotischen Aufrechnungen loszulösen. Die Vergangenheit darf die Gegenwart nicht vergiften – sie kann nur authentisch sein.
Maciej Łagiewski in der Einleitung zu seinem sehr zu empfehlenden Buch 1000 Jahre Breslau – Führer durch die Ausstellung im Breslauer Königsschloss/Pałac Królewski.

Thomas Maruck

www.schlesien-heute.de

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