Mein Großvater war Sudetendeutscher
Am 31. Juli 1945, vor 80 Jahren, ereignete sich das Massaker von Aussig – ein trauriger Höhepunkt der Gewalt gegen Sudetendeutsche zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus diesem Anlass erzählt der Autor die Geschichte seiner Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die deutschböhmische Herkunft der Familie
Meine Familie stammt ursprünglich aus Böhmen, dem heutigen Tschechien. Um 1900 war Böhmen Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Tschechen und Deutsche lebten dort Seite an Seite. Prag war stark deutsch geprägt, und vor allem das Sudetenland – die Grenzregion Böhmens zu Österreich, Bayern, Sachsen und Schlesien – war seit dem 12. und 13. Jahrhundert überwiegend von Deutschen besiedelt.

Quelle: Wikipedia
Wie aus „Oeser“ „Ezer“ wurde
Mein Urgroßvater Karl Ezer wurde am 28. Juli 1902 in Miröschau (heute: Mirošov) bei Pilsen geboren. Sein Vater Julius Franz Ezer war Braumeister, ebenfalls aus Pilsen. Dessen Vater, Karl Oeser, war Bergwerksleiter mit bis zu 102 Mitarbeitern. Er änderte den Familiennamen von „Oeser“ zu „Ezer“, um ihn zu slawisieren und an die tschechische Sprache anzupassen. Das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen war gut – mein Urgroßvater sprach beide Sprachen fließend.

Foto: Privat
Als Karl drei Jahre alt war, starb seine Mutter Antonia, geborene Nowotny. Er wurde daraufhin früh auf eine Militärakademie geschickt und kam nach Galizien – die heutige Region um Krakau und Lemberg. Dort, in einer vorwiegend polnischsprachigen Umgebung, eignete er sich auch Polnisch an.
Karl Ezer und die Tschechoslowakei
Mit 16 Jahren erlebte Karl den Zerfall der Habsburgermonarchie und wurde Bürger der neu gegründeten Tschechoslowakei. Dank seiner Sprachkenntnisse und seiner militärischen Ausbildung schlug er eine Laufbahn beim Militär ein. Der neue Staat war nun mehrheitlich tschechisch geprägt, und antideutsche Stimmungen nahmen zu. Die Familie lebte zunächst bei Prag, wo auch mein Großvater Peter geboren wurde.
„Karl genoss hohes Ansehen und brachte es bis zum Hauptmann. Man bot ihm weitere Karriereschritte an, falls er seine deutsche Identität ablegen würde, doch er lehnte ab.“
Karl genoss hohes Ansehen und brachte es bis zum Hauptmann. Man bot ihm weitere Karriereschritte an, falls er seine deutsche Identität ablegen würde, doch er lehnte ab. Als sein ältester Sohn in der Schule als „Němec“ (Deutscher) beschimpft und verprügelt wurde, zog die Familie ins Sudetenland, nach Aussig an der Elbe.
Sudetenland und Zweiter Weltkrieg
Aussig wurde ihre neue Heimat. Mein Großvater Peter verbrachte dort seine Kindheit. Nach dem Münchner Abkommen 1938 wurde das Gebiet Teil des Deutschen Reichs, später folgten die übrigen tschechischen Landesteile. Karl wurde zur Reserve versetzt und arbeitete bei Osram in der Leuchtmittelproduktion.

Foto: Wikipedia
Er wurde erst 1943 eingezogen, da er in kriegswichtiger Industrie arbeitete. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse in Tschechisch und Polnisch wurde er als Dolmetscher ausgebildet und lernte zusätzlich Russisch. 1944 schloss er seine Ausbildung als Klassenbester ab und wurde an die Front versetzt, als die Ostfront zusammenbrach. Seit dem 22. Juli 1944 gilt er in Lublin als vermisst.
Aussig 1945
Im Mai 1945 rückte die Rote Armee in Aussig ein, zog jedoch rasch weiter. Kurz darauf übernahmen tschechische Partisanen die Kontrolle und forderten die Bevölkerung zur Waffenabgabe auf. Nur ein stadtbekannter Kommunist, der schon beim Einmarsch der Roten Armee die rote Fahne gehisst hatte, kam dieser Aufforderung nach. Er wurde auf dem Marktplatz mit seiner eigenen Pistole erschossen.

Foto: Sudetendeutschen Archiv, München
Die verbliebenen Deutschen mussten fortan Armbinden mit der Aufschrift „Němec“ tragen und wurden zur Zwangsarbeit eingeteilt. Mein Großvater Peter, damals 14 Jahre alt, musste für einen Tschechen arbeiten, der eine enteignete deutsche Bäckerei übernommen hatte. Die Nahrung war knapp, und wenn er Glück hatte, durfte er verkohlte Brötchen essen. Eines Tages wurde er dabei erwischt, wie er Schweinen verfaulte Kartoffeln aus dem Trog stahl. Partisanen wollten ihn daraufhin auf dem Marktplatz erschießen. Doch im letzten Moment kam der Bäcker angerannt und erklärte, er brauche den Jungen noch.
Das Massaker von Aussig
Am 31. Juli explodierte eine Munitionsfabrik in Aussig, wobei tschechisches Wachpersonal und deutsche Arbeiter starben. Die Partisanen machten deutsche „Werwölfe“ für das Unglück verantwortlich. Noch am selben Tag begannen systematische Gewalttaten gegen Deutsche: Viele wurden erschossen, erschlagen, erstochen oder ertränkt. Die grausamste bekannte Szene spielte sich auf der Elbebrücke ab, wo Frauen mit Kindern gezwungen wurden, in den Fluss zu springen, bevor man sie mit Maschinengewehren beschoss. Schätzungen sprechen von bis zu 2.700 Toten. Seit 2005 erinnert eine Gedenktafel an jener Brücke an die Opfer der Ereignisse vom 31. Juli 1945.

Foto: Wikipedia
Als meine Urgroßmutter Wilhelmine davon im Radio hörte, packte sie in Eile die nötigsten Dinge und floh mit ihren drei Söhnen, darunter auch mein Großvater Peter. Auf dem Weg trafen sie auf Partisanen, die Lastwagen voller Deutscher geladen hatten. Sie befahl den Kindern, sofort ihre Armbinden abzunehmen. Im Gespräch mit den Partisanen gab sie sich nicht zu erkennen und sprach fließend Tschechisch. Auf ihre Frage, was mit den Deutschen geschehen solle, antwortete einer: „Mit den Deutschen wird jetzt aufgeräumt.“ Sie verließen die Stadt so schnell wie möglich. Andere Familienangehörige überlebten den Tag nicht. Was mit den Menschen auf den Lastwagen geschah, ist bis heute ungeklärt.
Flucht und Neuanfang
Die Familie floh über das Erzgebirge nach Sachsen und schließlich weiter nach Bayern. Mein Großvater erinnerte sich später, dass sie unterwegs auf Baumrinde kauten, um wenigstens das Gefühl zu haben, etwas zu essen. Einmal fing er eine Taube – leider, sagte er, sei da kaum etwas dran gewesen. In den westlichen Besatzungszonen angekommen, arbeitete er zunächst im Steinbruch. In den 1950er Jahren wurde er Polizist und heiratete meine Großmutter, die in diesem Jahr verstarb. Er selbst starb bereits 2014.

Foto: Privat
Trotz all der Härten seiner Jugend war mein Großvater ein fröhlicher Mensch mit schwarzem Humor. Einmal erklärte er uns, warum er keine Pizza esse: „Stellt euch vor, da ist ein Bäcker im Restaurant mit nichts als einer kleinen Schürze, kein Hemd“, sagte er, bevor er einen Pizzabäcker mimte. Er schleuderte imaginären Teig in die Luft und griff sich dabei unter die Achseln, bevor er den Teig weiterknetete. So bleibt mir mein Großvater aus dem Sudetenland bis heute lebhaft in Erinnerung.
Die geschilderten Ereignisse stammen vor allem von ihm. Sein Bruder Karl forschte später zu unserer Familiengeschichte. Dank ihm wissen wir heute viel mehr. Es ist erstaunlich, wie sehr sich seitdem alles verändert hat. Deutschland und Tschechien sind einander nähergekommen, und durch Denkmäler wie jenes auf der Elbebrücke in Aussig, heute Ústí nad Labem, wird inzwischen auch der deutschen Opfer von tschechischer Seite aus gedacht.