Vom Erdboden verschwunden: Miedzianka – Schlesiens Tschernobyl
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie schnell die Natur menschliche Erzeugnisse verschlingen kann, wenn diese nicht gepflegt werden. Doch in Schlesien haben wir ein Beispiel dafür: Die Stadt Kupferberg, die schon viele Beinamen hat, unter anderem die verschollene Stadt oder Schlesiens Tschernobyl.
Wer heute auf den Hügeln der angesprochenen Stadt spaziert, sieht auf den ersten Blick nur unscheinbare Felder, Buschwerk und ein paar Ruinen. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt in den überwucherten Resten die Spuren einer Stadt, die einst reich und bedeutend war. Miedzianka – so lautet ihr polnischer Name – war ein Ort mit über 700 Jahren Geschichte. Sie hatte alles, was eine lebendige Stadt ausmacht: Märkte, Kirchen, Handwerk, Bergwerke, eine Brauerei, sogar ein Schloss. Heute ist fast nichts davon übrig. Man könnte meinen, die Erde habe die Stadt verschluckt und alle Spuren ihrer Vergangenheit getilgt. Dabei war Kupferberg lange Zeit ein Symbol für wirtschaftliche Stärke und Erfindergeist, bevor es zum Sinnbild für Zerstörung und Vergessen wurde.

Foto: Łukasz Biły
Kupferberg: Vom blühenden Bergbauzentrum zum Kurort
Die Anfänge reichen zurück ins 12. Jahrhundert. Damals entdeckten Siedler in den Bergen Erzvorkommen, die bald das Schicksal des Ortes bestimmen sollten. Aus einem kleinen Dorf wurde nach und nach ein Zentrum des Bergbaus. Schon im 15. Jahrhundert war die Gegend berühmt für ihre Kupferlagerstätten, zeitweise wurde sogar Silber gefördert. Werkstätten, Schmelzhütten und eine Vitriolproduktion sorgten für Wohlstand und brachten den Menschen Arbeit. 1519 erhielt Kupferberg den offiziellen Status einer Bergstadt – ein Privileg, das es nur an wenigen Orten gab. Über 160 Stollen und Schächte waren damals in Betrieb, und die Stadt entwickelte sich zu einem bedeutenden Produktionszentrum im Habsburgerreich. Mit dem Bergbau kamen Händler, Handwerker, Wirte und Geistliche. Entstanden war eine Stadt, die nicht nur rohstoffreich, sondern auch kulturell lebendig war. Kirchen und Wohnhäuser prägten das Bild, ein Schloss zeugte vom Selbstbewusstsein der Bewohner. Sogar eine Papiermühle und eine Brauerei entstanden – beides Betriebe, die sich neben dem Bergbau lange Zeit behaupteten. Kupferberg erlebte Höhen und Tiefen, Kriege und Brände, doch die Stadt erhob sich immer wieder aus den Ruinen. Noch im frühen 20. Jahrhundert galt sie als Schmuckstück der Region, das nicht nur Arbeiter, sondern auch Touristen anzog.
Geheimer Uranabbau: Sowjetische Ära und Zerstörung Kupferbergs
Nach dem Ende des Bergbaus im Jahr 1925 wandelte sich Kupferberg zu einem beliebten Kurort. Gäste aus der weiteren Umgebung kamen, um die reine Luft, die beeindruckende Aussicht und die Ruhe zu genießen. Es schien, als würde die Stadt einen neuen Weg finden – weg von der Industrie, hin zu Erholung und Tourismus. Doch dieser Traum währte nur kurz. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs veränderte sich die Lage dramatisch. Die Sowjetunion, die das Gebiet nun kontrollierte, entdeckte in den Bergen Uran. Der unscheinbare Ort wurde plötzlich von höchster strategischer Bedeutung für das Atomprogramm der Roten Armee. Offiziell sprach man nie von Uran. In den Papieren war von einer „Papierfabrik“ die Rede, während in Wahrheit Bergleute unter extremen Bedingungen die begehrte Erzsubstanz förderten. Für die Arbeiter gab es keine Sicherheit, keine Aufklärung über Risiken, nur Versprechungen von gutem Verdienst. Bald klagten viele über Atemnot, Hautprobleme oder Zahnverlust – typische Symptome radioaktiver Belastung, die aber niemand beim Namen nennen durfte. Das Leben in der Stadt war nun geprägt von Angst, Überwachung und Misstrauen. Wer Briefe mit Andeutungen schrieb, riskierte Gefängnis. Wer versuchte, etwas Uran für den Schwarzmarkt herauszuschmuggeln, bezahlte dies oft mit dem Leben. Kupferberg wurde zu einem Ort des Schweigens, ein Schauplatz geheimer Arbeiten, die später gründlich aus den Archiven gelöscht wurden.

Foto: Łukasz Biły
Kupferberg verschwindet: Abriss, Umsiedlung und Spuren der Vergangenheit
Die Konsequenzen waren katastrophal. Der Bergbau unterhöhlte das Gelände, viele Gebäude sanken ein oder stürzten ein. Ganze Straßenzüge verfielen, während die Behörden immer stärker darauf drängten, den Ort aufzugeben. Ab den 1960er-Jahren fiel die endgültige Entscheidung: Kupferberg sollte verschwinden. 1967 begann man damit, Häuser systematisch abzureißen. Sogar der Friedhof blieb nicht verschont – Grabplatten wurden herausgerissen, Gebeine verstreut. Für die letzten Bewohner war es ein doppelter Verlust: Sie verloren nicht nur ihre Häuser, sondern auch die Erinnerung an ihre Ahnen. Bis 1972 war die Umsiedlung nach Jelenia Góra abgeschlossen, und auf dem Papier existierte die Stadt nicht mehr. Wer heute durch die Gegend läuft, sieht nur noch vereinzelte Spuren. Ein alter Kirchbau, der wie durch ein Wunder stehen blieb, erhebt sich zwischen Büschen und Gestrüpp. Dahinter lassen sich die Reste einer einst prächtigen Toranlage finden. Ansonsten sind es kleine Hügel, überwucherte Fundamente, die von der einstigen Stadt künden. Es ist kaum zu glauben, dass hier einmal ein Marktplatz mit Brunnen, Handwerksläden und lebendigem Treiben war.
Die Macht der Natur: Wie die Natur eine ganze Stadt zurückerobert
Spazierend durch die Überreste von Kupferberg macht sich der Mensch Gedanken, wie es sein kann, dass die Natur auf diese Weise eine ganze Stadt verschlingen kann. Und doch ist es kein Einzelphänomen. Die Natur besitzt eine erstaunliche Kraft, die uns Menschen immer wieder vor Augen führt, wie vergänglich unsere Bauwerke sind. Schon wenige Jahre ohne Pflege reichen aus, damit Pflanzen, Moos und Bäume Mauern durchbrechen, Dächer einstürzen und Wege überwuchert werden. Was wir über Generationen hinweg erschaffen, kann in kürzester Zeit von Wurzeln, Regen und Frost zerstört werden. Besonders sichtbar wird dieses Phänomen an verlassenen Dörfern oder Industrieanlagen, wo die Natur ungehindert Raum zurückerobert. Ganze Straßenzüge verschwinden im Grün, Mauern brechen unter dem Druck von Baumwurzeln, und selbst massive Steinbauten verlieren gegen die stetige Kraft von Wind und Wetter. Dieses Zusammenspiel zeigt, dass der Mensch nur Gast auf der Erde ist. Ohne stetige Pflege wird jedes Werk, sei es noch so monumental, wieder Teil der Landschaft. Genau das ist mit Kupferberg passiert.
„Spazierend durch die Überreste von Kupferberg macht sich der Mensch Gedanken, wie es sein kann, dass die Natur auf diese Weise eine ganze Stadt verschlingen kann“.
Kupferbergs Wiedergeburt: Brauerei, Tourismus und lebendige Erinnerung
Und doch lebt Kupferberg heute auf eine andere Weise weiter. Zwar sind die historischen Gebäude verschwunden, doch die Geschichten und Mythen um den Ort ziehen nach wie vor Besucher an. Historische Tafeln entlang eines Wanderwegs erinnern an die 900-jährige Vergangenheit. Am meisten Aufmerksamkeit erregt aber eine neue Brauerei, die seit 2015 in Miedzianka Bier braut – wie einst in den goldenen Zeiten der Stadt. Auf ihrer Terrasse sitzen Gäste, genießen den Blick in die Landschaft und stoßen an, ohne vielleicht zu wissen, wie viel Tragik und Leid mit diesem Boden verbunden sind. Doch genau darin liegt eine besondere Symbolik: Aus einem Ort des Schweigens ist ein Ort der Begegnung geworden. Kupferberg mag vom Erdboden verschwunden sein, doch seine Geschichte lebt fort – in den Erzählungen, in den spärlichen Ruinen und im Geschmack eines Bieres, das an die widerstandsfähige Seele dieser Stadt erinnert.