Die Rede von Bernard Gaida, dem Bevollmächtigten des VdG für internationale Zusammenarbeit in Polen und AGDM-Sprecher zum Tag der Heimat 2025 in Stuttgart.
Zunächst verneige ich mich vor den Unterzeichnern der Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Nur wenige Jahre nach Krieg, Flucht und Vertreibung ein solch visionäres Friedensdokument zu schaffen, zeugt von tiefer Weisheit und moralischer Größe der Verfasser.
Als Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten in der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten vertrete ich jene Deutschen, die in Schlesien, Ostpreußen, der Zips, dem Banat, Wolhynien, am Schwarzen Meer und anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion geblieben sind – oder nicht gehen konnten. Sie waren vor 75 Jahren hier nicht vertreten.

Wusste man damals, was hinter dem Eisernen Vorhang geschah? Wird daran heute erinnert? Wir hatten damals weder Rechte noch Stimme.
Das Ausmaß der Tragödie verdeutlichen die Zahlen: Östlich der Oder-Neiße-Linie sowie in Mittel- und Osteuropa und Zentralasien lebten vor 1939 über 20 Millionen Deutsche. Heute schätzt das BMI ihre Zahl dort auf nur noch etwa eine Million. Somit ist die deutschsprachige Heimat dort verschwunden.
Während in Deutschland die Charta entworfen wurde, existierten allein in Polen 200 bis 500 Lager für Deutsche mit hohen Sterberaten. Hunderttausende waren dort und andernorts – in der Tschechoslowakei oder Jugoslawien – interniert.
Parallel dazu begann in Mitteleuropa die Deportation zur Zwangsarbeit in die UdSSR. Die Opferzahlen sind unklar und reichen von 300.000 bis 730.000. Bis zu 30% kehrten nie zurück. Die letzten Heimkehrer kamen 1950. Vergessen wir auch nicht die Deportationen innerhalb der UdSSR ab 1941, die Wolgadeutsche, Schwarzmeerdeutsche sowie Deutsche aus Wolhynien und dem Kaukasus betrafen.
War 1950 alles vorbei? Keineswegs. Es folgte ein jahrzehntelanger, kultureller Kampf gegen das Deutschsein – bis 1989/90 und teils versteckt bis heute. Ein Kampf gegen Sprache, Kultur und Identität in fast allen mittel- und osteuropäischen Staaten, geprägt von Benachteiligung, Namensänderungen und Enteignungen.
„Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten.”
Heute bewundern wir die Charta als visionäres Dokument. Als sich vor 35 Jahren deutsche Minderheiten in Europa und Zentralasien organisierten, fanden wir darin gemeinsame Gedanken – insbesondere die Unterstützung für ein vereintes Europa, in dem Völker ohne Furcht leben. Seither sind wir unermüdliche Befürworter der europäischen Integration. Sie bietet – mehr als Nationalstaaten allein – Garantien für Menschenrechte, sprachliche Vielfalt und den Erhalt unserer Identität.
Unsere Erfahrung beweist die Wahrheit des Satzes aus der Charta: „Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten.“ Wenn Heimat – wie Wilhelm von Humboldt sagte – vor allem Sprache ist, dann haben auch wir sie verloren. Vielleicht mehr als jene, die ihre Heimat geografisch verloren. Daher ist unser Verlangen nach Heimatrecht heute ein Kampf für funktionierende Bildungssysteme für Minderheiten – im Geiste der Europäischen Sprachencharta. Wir brauchen nicht nur das Recht darauf, sondern die Umsetzung, die vielerorts stockt.
Wie die Vertriebenen vor 75 Jahren fordern auch wir eine „gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des Krieges“. Wir sind Teil dieses Volkes! Erst seit 30 Jahren können wir laut sagen: Unsere Opfer, unsere jahrzehntelange politische Lage nach dem Krieg – mit Folgen wie Sprachverlust, Traumata oder mangelnder Akzeptanz – sind auch Kriegsfolgen.
Daher ist entscheidend, dass die Bundesregierung eine klare Position zu den deutschen Minderheiten vertritt. Das BMI formuliert es richtig: Unsere Förderung ist „Ausdruck der Verantwortung Deutschlands für die Bewältigung der Folgen des Zweiten Weltkriegs.“
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Ich danke Ihnen ausdrücklich dafür, dass Sie diese historische und moralische Verantwortung – die fortgesetzte Förderung und Unterstützung der Vertriebenen sowie unserer Volksgruppen – im Koalitionsvertrag verankert haben. Diese Politik ist von existentieller Bedeutung – insbesondere dort, wo die Umsetzung der Minderheitenpolitik unzureichend ist und Rückschritte verzeichnet. In diesem Zusammenhang wäre eine drohende Schließung des Oberschlesischen Museums in Ratingen ein fatales Signal.
Gemäß der Charta dürfen wir feststellen: Die deutschen Minderheiten pflegen heute ein „verständnisvolles und brüderliches Zusammenleben“ mit den Mehrheitsgesellschaften und stärken somit die guten Beziehungen zu Deutschland. Dies geschieht im Schulterschluss mit zahlreichen Organisationen in unseren Ländern, in Deutschland, dem Bund der Vertriebenen (BdV) und dessen Kulturstiftung.
Der letzte Appell der Charta ist aktueller denn je: „Wir rufen Völker und Menschen […] auf, Hand anzulegen […], damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend […] der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.“ Daher richten wir an Sie die dringende Bitte:
Stärken Sie uns im Geiste der Charta – mit aller Entschlossenheit im Einsatz für den Erhalt unserer kulturellen Identität. Dies erfordert:
• die verbindliche Umsetzung der Menschenrechte,
• eine nachhaltige Absicherung der Bildungsangebote und
• ein entschlossenes Eintreten dort, wo Minderheitenrechte bedroht sind.
Unsere Zukunft gründet auf dieser unverzichtbaren Solidarität. So bleiben wir lebendige Brückenbauer und Partner für Versöhnung und Stabilität – für ein friedliches und vereintes Europa.
Stuttgart, 05.08.2025