„Höchste Eisenbahn für erlesenen Genuss!“, lautete das Motto des diesjährigen Schlesischen Nachtlesens am 13. April an beiden Neißeufern von Görlitz. Zusätzlich zu den Kurzlesungen im Bahnhof Görlitz und Umgebung kam auf polnischer Seite der Bahnhof Görlitz-Moys (Stacja Zgorzelec) mit einer Lesung ins Spiel.
Das Thema Bahn wurde nicht zufällig gewählt, so die Organisatorin Agnieszka Bormann vom Kulturreferent Schlesien am Schlesischen Museum zu Görlitz. Es hatte Bezug auf die auslaufende Sonderausstellung „Niederschlesien im Aufbruch“ genommen. Diese Präsentation widmete sich Orten und dem Gewerbe entlang der Schlesischen Gebirgsbahn zwischen Görlitz und Waldenburg (Wałbrzych).
Das Schlesische Museum zu Görlitz und das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam organisieren das Schlesische Nachtlesen und die Literaturtage an der Neiße, die alle Jahre im Wechsel stattfinden. In beiden Veranstaltungen spielt Schlesien stets die Hauptrolle.
Der am weitesten entfernte Ort im Fahrplan der Kurzlesungen war die tschechische Großstadt Ostrau (Ostrava), die 1941 aus Mährisch und Schlesisch Ostrau gebildet wurde. Hierzu wurde aus dem Kriminalroman „Kinder der Wut“ von Nela Rywikova (2016, Deutsch 2023) und aus Ota Filips „Himmelfahrt des Lojzek aus Schlesisch Ostrau“ (1972, Deutsch 1973) vorgelesen. Etwas näher liegt Kattowitz (Katowice), dessen Handlungsort im Roman „Huta Ferrum“ von Eva Rex (2019) die Hauptrolle spielt. Um die Eisenbahnentwicklung in Schlesien geht es in einem Zeitungsbericht vom Dezember 1891 und mit Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ (1888), einem der bedeutendsten Werke des deutschsprachigen Naturalismus, wurden ganz andere Stimmungsbilder erzeugt.
Spurenwechsel – 150 Jahre „Bahnliteratur“
Roswitha Schieb, Journalistin und Autorin mit schlesischen Wurzeln, machte vorab mit 150 Jahren Literatur rund um Züge, Bahnstrecken und Stationen bekannt. Und so erfuhr das Publikum, dass die Einführung der Eisenbahn Mitte des 19. Jahrhunderts als Verkehrs- und Reisemittel keineswegs nur bejubelt wurde. Vielmehr hatte man Angst vor dem “schnellen Dahingleiten“.
„Man sprach von der Vernichtung von Raum und Zeit“, so Schieb. Sie erarbeitete für das 12. Schlesische Nachtlesen im Bahnhof Görlitz eine szenische Lesung mit geschichtlichen Exkursionen und literarischen Texten, die der Schauspieler und Synchronsprecher Wolfgang Wagner zu Gehör brachte.
Jenseits des Neißeviadukts
Im Dachgeschoss des Moyser Bahnhofes (Stacja Zgorzelec, Ujazd) war der aus Bunzlau (Bolesławiec) stammende Bestsellerautor Sławek Gortych zu Gast. Bekannt geworden ist er durch seine im Riesengebirge spielenden Krimis, die auch die deutschen Zeiten einbeziehen. Von Beruf Zahnarzt verbindet er die Leidenschaft fürs Wandern mit seinem Geschichtsinteresse. Gortych berichtete in Moys, dass er bereits in seiner Schulzeit und später im Studium gerne gewandert ist. „Während eines Ausflugs stieß ich auf die Überreste der Prinz-Heinrich-Baude (Schronisko Księcia Henryka) am Großen Teich (Wielki Staw). Ich begann, in Büchern und deutschen Veröffentlichungen nachzuforschen und stieß auf eine inspirierende Geschichte. Der letzte deutsche Besitzer hatte diese Baude zusammen mit seinem Sohn noch bis 1946 bewirtschaftet. Er war der einzige Deutsche, der nicht vertrieben wurde. In einer Oktobernacht, 1946, brannte sie vollständig ab. Der Besitzer und sein Sohn verschwanden spurlos. Diese Geschichte ließ mich nicht mehr los“, erzählte Gortych, der bereits den dritten Teil seiner Riesengebirgskrimireihe herausbrachte.
Oppelner Akzent im zweiten Buch
In seinem zweiten Buch, „Schronisko, które przetrwało“, beschäftigt den Autor ein Zugunglück, das sich 1947 auf einer Bergstrecke in der Nähe von Schreiberhau (Szklarska Poręba) ereignete. Es gebe für die Figuren im zweiten Band Vorbilder im Umfeld des Autors, so Gortych. Der polnische Arzt, der einem deutschen Kriegsverbrecher Hilfe leistet, trägt Züge „eines selbstgerechten und äußerst unbeliebten Dozenten aus meinem Medizinstudium“, verriet er. Und Justyna, die ums Überleben ihrer Lebensaufgabe – des Jugendkammhauses Rübezahl (schronisko Odrodzenie) – kämpft, entspricht „meiner tapferen Studienkollegin aus Oppeln, die viele schwere Hürden überwinden musste“, so Gortych.
Hürden ganz anderer Art nehmen die Helden von Jaroslav Rudiš in seiner „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“. In seiner Lesung zum krönenden Abschluss des Schlesischen Nachtlesens pries Rudiš die Schönheit des langsamen Reisens an. Mit Charme und Witz nahm er die Hörer auf eine Bahnreise durch Europa mit: von Berlin bis zum Gotthardtunnel, im Speisewagen von Hamburg nach Prag oder im Nachtzug durch Polen.
Zurek und Schnitzel statt Soljanka
Und bald schon ist Rudiš wieder unterwegs in Schlesien: Sein Breslauer Verlag ‘Książkowe Klimaty’ organisiert Mitte Mai eine Lesetournee von Breslau nach Kattowitz. “Ich kenne die Bahnhöfe in Gleiwitz (Gliwice) und Kattowitz vom Umsteigen. Leider kenne ich die Bahnhöfe besser als die Städte, das ist eine große Schande“, gesteht er. Neulich war Rudiš auf dem Weg von Neisse (Nysa) nach Oppeln (Opole). „Ich freue mich jedes Mal auf den Speisewagen, auf Zurek und Schnitzel mit Surówki. Ich habe jetzt Hunger bekommen!“, sagte der Autor, auf den im Görlitzer Bahnhof eine deftige Soljanka wartete.
Der Schlesische Nachtlesezug ist nun abgefahren. Bücherwürmer können sich aber auf die „Literaturtage an der Neiße“ im April 2025 freuen. Das Schlesische Nachtlesen gibt es in zwei Jahren wieder.
Klaudia Kandzia