Oberschlesische Spuren in Europa
Von Nobelpreisträgern bis zu vergessenen Rabbinern: Das 30. Schlesienseminar in Groß Stein und Oppeln schlug eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Unter dem Leitgedanken der „Soft Power“ wurde Schlesien als kultureller Referenzpunkt Europas neu entdeckt.
Welche Menschen aus Oberschlesien haben Bedeutendes geleistet – und wie haben sie Europa geprägt? Diesen Fragen widmete sich das 30. Schlesienseminar, das vom Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit (HDPZ) bereits zum 27. Mal organisiert wurde. Vom 28. bis 30. Oktober fanden in Groß Stein und Oppeln Vorträge und Diskussionsrunden zu verschiedenen Themenblöcken statt.
Am 29. und 30. Oktober fand das Schlesienseminar in der Woiwodschaftsbibliothek in Oppeln statt.Foto: M.O.
Dass es dabei nicht nur um Geschichte gehen sollte, machte Lucjan Dzumla, Direktor des HDPZ, zu Beginn des zweiten Seminartages klar. Im ersten Panel ging es um das intellektuelle Erbe Schlesiens. Mit Bezug auf das Thema des ersten Panels, „Das intellektuelle Erbe Schlesiens“, erklärte Dzumla: „Wichtig ist auch der Blick in die Zukunft – also wie wir dieses intellektuelle Erbe bewahren können. Nicht nur darüber reden, was war, sondern auch, was zu tun ist, damit es weiterhin so gut oder besser bleibt.“
So war der Zukunftsblick leitend für viele Beiträge: Die historischen Analysen wurden immer wieder mit Fragen nach einem zeitgemäßen Umgang mit dem kulturellen Erbe verknüpft. Während am Dienstag das 30-jährige Jubiläum in Groß Stein feierlich eröffnet wurde, standen am Mittwoch und Donnerstag in der Woiwodschaftsbibliothek Oppeln wissenschaftliche Diskussionen im Zentrum.
Nobelpreisträger, Schriftstellerinnen, Rabbiner
Neben den – laut Prof. Edward Pliński – 19 schlesischen Nobelpreisträgern ging es unter anderem um die Schriftstellerin Stefanie Zweig, den Autor und Übersetzer Peter Lachmann sowie um die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Zülz.
Seit der Jahrtausendwende erhielt aus Schlesien nur noch Olga Tokarczuk den Literaturnobelpreis – zuvor waren regelmäßig Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler aus der Region ausgezeichnet worden. Unter ihnen die Oberschlesier Otto Stern (Physik, 1943), Kurt Alder (Chemie, 1950) und Maria Goeppert-Mayer (Physik, 1963).
Prof. Edward Pliński, Physiker, Professor an der Fakultät für Elektrotechnik der Polytechnischen Universität Breslau.Foto: M.O.
Pliński, selbst Physiker, betonte auf Nachfrage die Bedeutung der Freiheit als Vorbedingung für bedeutende wissenschaftliche Leistungen. Es gehe darum etwas zu beginnen, was kaum Erfolgsaussichten habe. Viele der Geehrten forschten zum Zeitpunkt der Auszeichnung längst außerhalb Schlesiens. Auch in den Biografien von Stefanie Zweig und Peter Lachmann spielten Flucht und Auswanderung eine prägende Rolle.
Der Großteil der schlesischen Nobelpreisträger forschte zum Zeitpunkt der Verleihung nicht mehr in Schlesien. Auch in den Biografien von Stefanie Zweig und Peter Lachmann spielen Flucht oder Auswanderung eine Rolle. Über den Lebensgeschichten dieser Persönlichkeiten liegt oft eine zweite Ebene – die Geschichte des öffentlichen Bewusstseins über sie.
Am Beispiel von Stefanie Zweig stellt sich also nicht nur die Frage nach ihrer Verbindung zu Sohrau oder Schlesien, sondern auch: Wie viel davon ist heute noch bekannt – und wie wird dieses Wissen gepflegt?
Geschichte I: Stefanie Zweig und die Entwurzelung
Wer den Film „Nirgendwo in Afrika“ kennt, weiß um einen Teil der Lebensgeschichte von Stefanie Zweig. Das Drama, das 2003 einen Oscar erhielt, basiert auf ihrem autobiografischen Bestseller.
Tomasz Górecki und Marietta Kalinowska-Bujak vom Stadtmuseum Sohrau zeigten in ihrem Vortrag, wie Zweig mit ihrer Geburtsregion verbunden blieb.
Die Familie Zweig betrieb in Sohrau ein angesehenes Hotel und war dort gesellschaftlich etabliert. Nach der Volksabstimmung von 1921 zog Vater Walther Zweig in den bei Deutschland verbleibenden Teil Schlesiens, sodass Stefanie 1932 in Leobschütz geboren wurde. Doch Sohrau blieb der emotionale Bezugspunkt der Familie – selbst nach der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Kenia.
Tomasz Górecki und Marietta Kalinowska-Bujak vom Städtischen Museum Sohrau sprachen über die Verbindung der Schriftstellerin Stefanie Zweig mit Sohrau.Foto: M.O.
In einem Brief kurz vor ihrem Tod schrieb Zweig an die Einwohner von Sohrau, ihre Eltern hätten ihr in Kenia abends Geschichten aus der alten Heimat erzählt. Die Stadt in Schlesien wurde zu einem unerreichbaren Ort der Sehnsucht.
Zweig fand im Schreiben eine Möglichkeit, die familiäre Erfahrung der Entwurzelung literarisch zu verarbeiten. Ihr Vater, dem der Roman „Nirgendwo in Afrika“ gewidmet ist, habe den Heimatverlust nie überwunden, erklärten die Referenten. Anders als der Film, ist im Roman der Vater die zentrale Figur. Ebenfalls in der Literatur sucht Peter Lachmann einen Umgang mit seiner spezifisch schlesischen Biografie.
Geschichte II: Leben mit zwei Identitäten
Peter Lachmanns Lebensweg verlief anders, aber nicht minder geprägt von Brüchen. 1935 in Gleiwitz geboren, wuchs er zunächst deutschsprachig auf. Nach dem Krieg musste der Zehnjährige plötzlich Polnisch lernen. Wie Przemysław Chojnowski (Universität Wien) erläuterte: „Der Mutter von Peter Lachmann ist es nicht gelungen Gleiwitz zum richtigen Zeitpunkt zu verlassen. Sie musste also – mit ihm, der damals zehn Jahre alt war und mit seiner kleinen Schwester, die fünf Jahre alt war – zurück nach Gleiwitz. Die Eisenbahnstrecken, waren schon nicht mehr befahrbar. Dann wurde Lachmann auf eine polnische Schule geschickt und auf diese Weise hat er hat er Polnisch lernen müssen, also zwangsweise sozusagen.“
Dr. hab. Przemysław Chojnowski (Universität Wien) sprach über das Werk des Gleiwitzer Autors Perter Lachmann.Foto: M.O.
Trotzdem machte Lachmann das Polnische so sehr zu seiner Sprache, dass er zunächst polnischer Schriftsteller wurde. Gleichzeitig bildete er sich autodidaktisch in deutscher Literatur fort. Nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1958 begann er, polnische Werke ins Deutsche zu übersetzen – und schließlich auch auf Deutsch zu schreiben.
Für Lachmann als Autor ist es bezeichnend, dass er zwischen den beiden Sprachen hin- und herwechselt und die Auseinandersetzung mit diesen beiden Identitäten prägt sein Werk, wie Chojnowski erklärt: „Natürlich hat die polnische Sozialisation den Autor sehr geprägt. Der Sprachenwechsel war nicht nur ein Prozess, der nur mit Sprachen zu tun hat, sondern auch mit seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit, des Deutschen, des Polnischen, und auch der heiklen deutsch-polnischen Geschichte.“
Geschichte III: Ein vergessenes Erbe in Zülz
Nicht eine Person, sondern ein Ort stand im Mittelpunkt des Referats von Andrzej Kałuża (Deutsches Polen-Institut Darmstadt): Zülz.
Er zeichnete nach, wie die Stadt im 17. Jahrhundert durch eine rechtliche Sonderstellung zu einem Zentrum jüdischen Lebens in Europa wurde. Der lokale Herrscher Krzysztof von Pruszkowski erwirkte bei Kaiser Rudolf II. eine Ausnahme, die den dort lebenden Juden Schutz bot.
Dr. Andrzej Kałuża(Deutsches Polen-Institut) gab einen Einblick in die Geschichte des jüdischen Lebens in Zülz.
Foto: M.O.
Dadurch hatten viele jüdische Gelehrte, die andernorts keine Heimat fanden, ihren offiziellen Wohnsitz in Zülz. : „Viele sogzusagen tolerierte Breslauer Juden, die es damals auch gab, die hatten eine Adresse entweder in Zülz oder in Glogau und da hatten sie durch irgendwelche Ausnahmen auch das Recht zu bleiben und zu handeln.“ erläuterte Kałuża im Gespräch mit dem Wochenblatt.
Aus dieser Gemeinschaft gingen bedeutende Rabbiner hervor – etwa Julius Landsberger (1819–1890), Gründer der liberalen Synagoge in Darmstadt. Andrzej Kałuża beschreibt, wie er in Darmstadt auf den Namen des Rabbiners gestoßen ist: „Dort läuft man einfach ins Klinikum rein und vorne steht ‚Julius-Landsberger-Platz‘ und ‚geboren in Zülz, gestorben in Darmstadt‘ und so weiter. Da hat man sozusagen das gesamte 19. Jahrhundert vor Augen und das hat, mir den Anstoß gegeben zu fragen: ‚Ja was ist mit diesen Zülzer Juden im 19. Jahrhundert passiert?‘
Die Geschichte der Geschichte
Im Gespräch mit dem Neuen Wochenblatt schilderte Kałuża, wie wenig in seiner Kindheit über das jüdische Leben in Zülz bekannt war. Als Kinder hätten sie auf dem Friedhof gespielt und es sei nicht viel mehr bekannt gewesen, als dass es sich um jüdische Grabsteine handle: „Wir sind rumgelaufen und waren an so einem bestimmten Ort, genannt Kopiec, also so eine Grube. Und da haben wir gewusst, dass da jüdische Grabsteine sind.“ Erst in den 1980er-Jahren regte sich wissenschaftliches Interesse am jüdischen Friedhof in Zülz.
Er selbst fand heraus, dass bereits vor dem Zweiten Weltkrieg keine Juden mehr in Zülz lebten. Mit dem preußischen Judenedikt von 1812 war die dortige Sonderstellung hinfällig geworden. Kałuża bemerkt aber auch, dass die Geschichte des jüdischen Lebens in Zülz bei Weitem noch nicht erforscht ist. „Es ist eine spannende Geschichte, die noch auf ihren Autor wartet. Ich hoffe, dass sie nicht auf mich wartet, sondern eher, dass sich jemand anderer findet, der den Spuren systematisch nachgeht – in Rostock, Maastricht oder Tiergarten in Berlin.“
Tomasz Górecki und Marietta Kalinowska-Bujak vom Städtischen Museum Żory (Sohrau).Foto: M.O.
Ähnlich jung ist die Erinnerungskultur in Sohrau. Beim Aufbau des Museums seien sie auf Stefanie Zweig gestoßen und hätten herausgefunden, dass sie noch lebe, erklären Górecki und Kalinowska-Bujak. Da sie zu diesem Zeitpunkt aber gesundheitlich bereits angeschlagen war und auch bald darauf starb, hat sie Sohrau nie mehr besucht. Der Museumsdirektor xx, führte aber ein Interview mit ihr an ihrem Wohnort. Heute ist ihre Geschichte fester Bestandteil der Dauerausstellung.
Die Zukunft: Soft Power und kulturelle Diplomatie
Was sagt uns die Vergangenheit über die Möglichkeiten der Zukunft?
Diese Frage bestimmte die abschließende Podiumsdiskussion, die in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung stattfand. Unter dem Titel „Soft Power in den heutigen internationalen Beziehungen“ diskutierten Vertreter aus Wissenschaft und Politik, wie sich das kulturelle Erbe Oberschlesiens in die Zukunft übersetzen lässt. Oder wie es Lucjan Dzumla formulierte: „Tatsächlich ist dieses Schlagwort „Soft Power“ der Schlüsselbegriff, der die Intention des diesjährigen Seminars entschlüsselt.“
Unter Soft Power versteht man die Fähigkeit von staatlichen Akteuren nicht mit (harter) militärischer oder wirtschaftlicher Macht die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern durch Werte und die eigene Kultur zu überzeugen. Die Quintessenz der diesjährigen Ausgabe der Traditionsveranstaltung wäre dann womöglich die Erkenntnis, dass Schlesien – mitunter gerade wegen seiner wechselvollen und in Teilen leidvollen Geschichte – im Bereich der Soft Power und der Paradiplomatie etwas anzubieten hat.
Die Podiumsdiskussion „Soft Power in den heutigeninternationalen Beziehungen” wurde in Zusammenarbeit
mit der Konrad-Adenauer-Stiftung organisiert.
Foto: M.O.
In einem Input-Referat zur Thematik betont Irena Machura, stellvertretende Direktorin des HDPZ, die Bedeutung der Sprache für Soft Power im deutsch-polnischen Kontext: „Die Sprache spielt hier eine Schlüsselrolle – sie ermöglicht nicht nur Kommunikation, sondern schafft auch Vertrauen und Gemeinschaft. Das Erlernen der Sprache des Nachbarn ist daher sowohl ein politischer als auch ein symbolischer Akt.“
Und an dieser Stelle könnten wiederum Werke wie die von Peter Lachmann Anknüpfungspunkte bieten. Przemysław Chojnowski führt aus, dass sich der Umstand, dass Lachmann gezwungenermaßen zweisprachig war und in zwei Kulturen lebte auch in seinen Werken spiegelt: „Lachmanns Werke sind autothematisch und man findet in ihnen diese wichtigen Motive, die seine Sprachbiografie widerspiegeln, seine Dilemmas und auch seine Übergänge vom Deutschtum zum Polentum und umgekehrt.“
Auch wenn die Situation sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und mit Fortschreiten der europäischen Integration geändert hat, bleibt die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Sprachen und den damit verbundenen Kulturräumen notwendig. Dies wurde auch in der Podiumsdiskussion betont.
Ein Beitrag zur Verständigung
Mit der Verknüpfung von Geschichte, Kultur und internationaler Perspektive hat das Schlesienseminar mehr geleistet als eine bloße Bestandsaufnahme. Indem es danach fragte, wie die spezifische Prägung der Vergangenheit in die Zukunft hineingetragen werden können, kann es vielmehr zu einem Teil des Ökosystems werden, das große Leistungen ermöglicht. Nicht zuletzt passt dies auch zum Konzept des HDPZ, als Förderer der deutsch-polnischen Beziehungen. In ihrem Input-Referat hat Irena Machura dieses denn auch als Akteur im Bereich der Soft Power charakterisiert: „Was wir täglich tun – Beziehungsarbeit, Jugendarbeit, kulturelle Projekte – ist ja in der Praxis nichts anderes als Soft Power: beharrlich, leise, auf Vertrauen aufgebaut.“ Auch wenn nicht alle Plätze im Saal besetzt waren, war das Seminar ein wichtiger Impuls für die deutsch-polnischen Beziehungen.
Zum Schluss kündigte Machura an: „Nächstes Jahr haben wir 35 Jahre des Nachbarschaftsvertrages zwischen Polen und Deutschland. Wir möchten das ganze Jahr den nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen widmen, aber der Kulminationspunkt wird natürlich auch das Schlesienseminar, auf das wir schon heute ganz herzlich einladen.“








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