Einen Monat lang haben sich die Achtklässler der Grundschule des Vereins Pro Liberis Silesiae in Raschau (Raszowa) auf diesen Moment vorbereitet: Am Montagvormittag dieser Woche (06.11.) wollten sie einen Stratosphärenballon mit einer Sonde an den Rand des Weltalls aufsteigen lassen, um Erkenntnisse über die Verhältnisse in 40.000 Metern Höhe zu gewinnen. Doch bei wissenschaftlichen Experimenten gibt es viele Variablen und es kann auch mal etwas missglücken. Leider lief auch bei diesem Pilotprojekt nicht alles wie geplant. Was bleibt, ist eine wichtige Lektion für die beteiligten Jugendlichen – und die Zuversicht, dass der zweite Versuch gelingen wird.
Auf der Wiese hinter dem Schulgebäude des Vereins Pro Liberis Silesiae in Raschau herrscht am vergangenen Montagmorgen ein aufgeregtes Treiben. Die knapp ein Dutzend Achtklässler haben sich um einen Tisch versammelt, auf dem eine selbstgebaute Sonde liegt. „Achtung! Wissenschaftliches Experiment!“ steht in deutscher, polnischer und englischer Sprache auf der kleinen Styroporbox, in der sich eine Kamera, zwei GPS-Tracker, ein Datenmessgerät und ein Akku befinden. Daneben wird aus Gasflaschen gerade Helium in einen riesigen Ballon gefüllt. Die jüngeren Schüler und auch einige Eltern und Dorfbewohner stehen etwas abseits hinter einem Absperrband und verfolgen das Spektakel neugierig.
Der Höhepunkt des Pilotprojekts „Über-Schlesien“ steht kurz bevor. Vier Wochen lang haben die Jugendlichen auf diesen Tag hingearbeitet. „Wir wollen die Stratosphäre der Erde untersuchen, die Feuchtigkeit, den Luftdruck und die Temperatur in einer Höhe von etwa 40 Kilometern messen. Deshalb haben wir einen Ballon und eine Sonde konstruiert“, erklärt der Deutschlehrer und studierte Ingenieur Daniel Macioł, der die Arbeit der Schüler anleitet. Das Equipment für dieses außergewöhnliche Vorhaben – das erste seiner Art an einer Schule in Polen – wurde bei der deutschen Firma „Stratoflights“ bestellt.
Erdacht und organisiert wurde das Ganze von Beate Tur, Kulturmanagerin des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) beim Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG), und Johannes Schmidt, der beim Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit (HDPZ) ebenfalls als ifa-Kulturmanager tätig ist. „Wir wollten ein interaktives und zweisprachiges Projekt durchführen, das sich mit naturwissenschaftlichen Themen beschäftigt. Die Schüler sollten darüber nachdenken, wie unsere Erde zusammengesetzt ist, was in der Stratosphäre passiert und was man planen muss, um eine solche Sonde aufsteigen zu lassen“, sagt Johannes Schmidt. Und Beate Tur ergänzt: „Auf diese Weise soll das Interesse sowohl an den MINT-Fächern als auch an der deutschen Sprache gesteigert werden. Außerdem ermöglichen die während des Ballonflugs entstehenden Luftaufnahmen eine Auseinandersetzung mit der Geografie und der Kulturlandschaft in Oberschlesien, was zu einer Stärkung der kulturellen Identität der Jugendlichen aus den Reihen der deutschen Minderheit hier in der Region beitragen kann.“
Sonde mit Friedensbotschaften für die Welt
In den vergangenen Wochen haben die beiden Kulturmanager und Daniel Macioł die jungen Nachwuchswissenschaftler in mehreren Unterrichtsstunden auf den großen Tag vorbereitet. „Wir haben verschiedene Berechnungen gemacht, die Sonde zusammengebaut und Testläufe mit den GPS-Trackern durchgeführt“, berichten die drei Schülerinnen Hania, Zuza und Karolina, die den Start des Konstrukts kaum erwarten können. „Die Jugendlichen haben sich natürlich auch mit den theoretischen Grundlagen auseinandergesetzt, zum Beispiel mit den Schichten der Atmosphäre. Und alles fand fächerübergreifend und dreisprachig auf Deutsch, Polnisch und Englisch statt“, unterstreicht Daniel Macioł.
In der Sonde befinden sich dabei nicht nur die technischen Gerätschaften, sondern auch mehrere sogenannte Friedensbriefe. „Aktuell gibt es auf der ganzen Welt viele kriegerische Konflikte. Deshalb haben die Schüler verschiedene Briefe verfasst, in denen sie zum Weltfrieden aufrufen. Diese haben sie dann der Sonde beigelegt. Es sind ihre Botschaften an die Menschheit“, so Daniel Macioł. „In die Briefe haben wir auch Zitate von berühmten Persönlichkeiten [über das Wesen des Friedens] geschrieben, zum Beispiel von Albert Einstein oder Maria Montessori“, fügt die 13-jährige Julia hinzu.
Zuversicht trotz des Rückschlags
All diese fleißigen Vorbereitungen sollen nun Früchte tragen. Als der Ballon mit dem Helium gefüllt und auf einen Durchmesser von etwa drei Metern angewachsen ist, bringen die Schüler vorsichtig die Sonde sowie einen kleinen Fallschirm an und machen den Stratosphärenflug startklar.
Der Plan: Der Ballon steigt mit der Sonde auf eine Höhe von knapp 40 Kilometern – drei Mal höher als Verkehrsflugzeuge fliegen. Die Kamera in der Sonde filmt die aufregende Reise. Nach etwa drei Stunden Flugzeit und in etwa 200 Kilometern Entfernung vom Startpunkt platzt der Ballon automatisch. Die Sonde gleitet dann an dem Fallschirm gen Erde. Laut Vorhersagen zur Flugroute, die auf Wetterdaten und der Windrichtung basieren, landet die Sonde in der Gegend um Tarnów wieder auf dem Boden, aber auch ein Flug bis nach Rzeszów ist im Bereich des Möglichen. Die Flugbahn kann mithilfe der GPS-Tracker nachverfolgt werden. Nach der Rückkehr der Sonde zur Erde wollen die Schüler mit Daniel Macioł, Beate Tur und Johannes Schmidt zum Landungsort – der sich bestenfalls auf einer Freifläche befindet, aber auch in einem Wohngebiet oder in einem Gewässer liegen könnte – fahren, die Sonde bergen und in einem nächsten Schritt die während des Fluges gesammelten Daten auswerten.
Soweit die Theorie, jetzt geht es an die Umsetzung. Die Jugendlichen um Daniel Macioł machen sich fertig zum Start des Ballons, jeder Schüler hat eine Aufgabe: Die einen halten die Sonde, die anderen den Fallschirm, wieder andere die Schnüre, mit denen alles verbunden ist.
Doch dann der Schock: Aufgrund der hohen Zugkraft des Windes kann der Ballon nicht kontrolliert nach oben steigen. Sofort nach dem Start driftet er ab und kracht in einen Baum am Rande des Schulgeländes. Dabei reißen die Sonde und der Fallschirm ab und bleiben in den Ästen des Baums hängen. Der Heliumballon wiederrum fliegt in die Höhe – allein und auf Nimmerwiedersehen. Schnell wird den Anwesenden klar, dass das Projekt an diesem Tag nicht wie geplant zu Ende gebracht werden kann. Die allgemeine Enttäuschung ist spürbar, bei den Schülerinnen fließt sogar die ein oder andere Träne – ein Zeichen dafür, wie wichtig ihnen dieses Projekt ist und wie viel Herzblut sie in die Vorbereitung gesteckt haben.
Nach der ersten Ernüchterung stellt sich aber schnell wieder der anfängliche Tatendrang ein. „Das war ein Experiment – und Experimente können schiefgehen! Wir werden bald einen zweiten Versuch starten, vielleicht noch in diesem Monat. Und dann wird der Stratosphärenflug ganz bestimmt klappen“, sagt die 13-jährige Hania energisch.
Ihr Lehrer Daniel Macioł kann dem suboptimalen Verlauf des Ballonstarts auch etwas Positives abgewinnen. „Das war eine wichtige Erfahrung für die Jugendlichen: Es funktioniert nicht immer alles so, wie man es sich wünscht. Und man muss auch lernen, mit Rückschlägen umzugehen. Das gilt insbesondere für die Wissenschaft. Selbst der NASA gelingt nicht immer alles“, betont er.
Eines wird in den Gesprächen nach dem missglückten Startversuch des Ballons deutlich: Von diesem Fehlschlag lassen sich alle Beteiligten nicht entmutigen. Auf den neuen Anlauf in naher Zukunft werden sie sich noch intensiver vorbereiten, alle Eventualitäten noch kleinschrittiger durchdeklinieren. Und dann wird der Ballonflug zur Erforschung der Stratosphäre über Oberschlesien mit Sicherheit glücken.
Lucas Netter
Das Projekt „Über-Schlesien“ wird gefördert durch das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) aus Mitteln des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland. Koordiniert wird es vom Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) sowie vom Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit (HDPZ) in Kooperation mit der Grundschule des Vereins Pro Liberis Silesiae in Raschau.