Ein literarischer Spiegel der dunklen Nachkriegszeit in Polen
Was geschieht mit einer Gesellschaft, wenn der Krieg endet, aber die Gewalt weiterlebt? Wenn nicht nur die Sieger, sondern auch die Verlierer in einem Netz aus Rache, Leid und moralischer Verwirrung gefangen sind? Marcin Wilczurs Roman „Salomon“ öffnet ein Fenster in eine kaum bekannte, schmerzhafte Vergangenheit: das Nachkriegslager Zgoda, in dem Deutsche – und jene, die man für Deutsche hielt – ohne Rechte und unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten wurden. Dieses Buch ist kein Geschichtsbuch, sondern ein literarischer Aufruf zur Reflexion über Schuld, Opfer und die Grausamkeiten, die jenseits der offiziellen Geschichtserzählung liegen.
Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegszeit
Der Roman „Salomon“ entstand als Preisträger eines literarischen Wettbewerbs des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG). Es handelt sich um eine fiktive Erzählung, die allerdings auf wahren Begebenheiten beruht. Sie erzählt vom Lager Zgoda, einem ehemaligen Nebenlager eines Vernichtungslagers, das im Jahr 1945 unter der Leitung des polnisch-jüdischen Offiziers Salomon Morel stand. Morel, dessen brutale Herrschaft über das Lager in Wilczurs Erzählung zum Symbol für die Arbitrarität von Macht und Gewalt wird, verübte an den Gefangenen grausame Misshandlungen. Er zwang sie, deutsche Volkslieder zu singen, sich gegenseitig zu schlagen, ja sogar zu töten. Seine Schläge trafen „blindlings, als habe der Kommandant kein konkretes Opfer, als schlüge er nicht für den Nazismus, sondern einfach dafür, Deutscher zu sein“.
Bemerkenswert und historisch relevant ist dabei: Salomon Morel selbst war niemals in Auschwitz gewesen. Seine Familie wurde nicht – wie oft angenommen – von Deutschen, sondern von Polen ermordet. Trotz seiner jüdischen Herkunft richtete sich seine Rache nicht nur gegen Deutsche, sondern auch gegen Pol:innen, die ihm im Lager unterstanden. Morel wurde später wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt, floh jedoch 1992 nach Israel, wo er nicht ausgeliefert wurde.

Foto: Victoria Matuschek
Grausame Realität hinter Stacheldraht
Die Lebensbedingungen im Lager waren entsetzlich: Hunger, Epidemien und ein unerträglicher Gestank von Schweiß, Blut und Fäkalien durchdrangen die Luft. Wilczur beschreibt eindringlich: „Die fast vollständige Stille wurde durch Husten, Schluchzen und Klagen unterbrochen. Ich hörte Frauenstimmen, das Weinen kleiner Kinder – ein Weinen, das sagte, dass es an diesem Ort keine Hoffnung mehr gab.“
Rund 1.500 deutsche Zivilist:innen sowie polnische Gefangene starben innerhalb eines Jahres in diesem Lager – gestorben durch den „Gott des Lagers Zgoda, Herr über Leben und Tod“, an den sich vermutlich kaum jemand erinnern wird, „wenn wir nicht alternative Perspektiven zur hegemonialen Geschichtsschreibung aufdecken und in das kulturelle Gedächtnis aufnehmen, um Jahr für Jahr der Opfer zu gedenken – viel länger, als der Henker von Zgoda – Salomon Morel – und andere seinesgleichen gelebt haben.“
Opfer, Täter und die Frage nach Schuld
Doch das Buch geht weit über die Darstellung von Leid und Gewalt hinaus. Es stellt die komplexe Frage nach Schuld und Verantwortung in den Mittelpunkt – und bricht mit einfachen Kategorien: „Mehr als je zuvor war mir bewusst, dass es weder böse Deutsche noch gute Polen, weder böse Polen noch gute Deutsche gibt. Es gab die einen wie die anderen. Es gab deutsche Verbrecher, aber es gab auch deutsche Opfer. Es gab polnische Opfer, aber es gab auch polnische Henker.“
„Salomon“ zeigt: Nach dem Krieg lebte die Gewalt weiter – jenseits von Tätern und Opfern, gefangen in einem Netz aus Rache und moralischer Verwirrung.
Der Holocaust, der als „ethnische Säuberung“ zum Ziel hatte, Menschen aufgrund ihrer Herkunft systematisch zu vernichten, wirft in der Nachkriegszeit einen langen Schatten. In Lagern wie Zgoda zeigt sich jedoch, dass Gewalt und Ausgrenzung nach 1945 in anderer Form weiterlebten – diesmal waren es deutsche Zivilist:innen, die Opfer von Entrechtung und Racheakten wurden. Die Rachsucht, die sich im Lager Zgoda manifestierte, wird als eine fatale Spirale beschrieben: „Die Deutschen sind wie Kakerlaken. Du versuchst, einen zu zertreten, aber später wirst du dir bewusst, dass wieder einer und noch einer hervorkriecht […] Wenn wir nicht alle töten können, veranlassen wir, dass sie sich gegenseitig umbringen.“
Gewalt kennt keine Nationalität
Am Ende der Erzählung wird deutlich, dass Morels Taten nur ein Beispiel für die systematische Gewalt in vielen Nachkriegsgefängnissen sind: „Denkst du, es gab nur das Lager Zgoda? Nur einen Morel, den du beschuldigen kannst? Es gab viel, viel mehr. Weißt du, was sie in Łambinowice (Lamsdorf) gemacht haben? Sie tauchten Brot ins Wasser und warfen es aufs Feld. Die hungrigen Kinder liefen hinterher – und sie schossen auf sie. Sie testeten die neue Waffe, die sie bekommen hatten. Fünf Punkte für einen Treffer in den Bauch, zehn für einen Treffer in den Kopf.“
So wird klar: Die Grausamkeit der Nachkriegszeit war kein Einzelfall, sondern ein gesamtgesellschaftliches Trauma, das sich in vielen Lagern und an zahllosen Opfern wiederholte – unabhängig von Nationalität, Herkunft oder Geschichte. Wilczur zeigt, dass sich Gewalt und Unrecht nicht an Grenzen oder Ethnien halten, sondern überall dort entstehen, wo Rache über Menschlichkeit gestellt wird.

Foto: Victoria Matuschek
Ein Aufruf zur Erinnerung und Reflexion
„Salomon“ fordert uns heraus, die Nachkriegszeit nicht nur als eine Zeit der Befreiung zu sehen, sondern auch als eine Phase, in der neue Formen von Gewalt und Leid entstanden – oft im Schatten der hegemonialen Geschichtserzählungen. Es ist ein Buch, das die Erinnerung an vergessene Opfer wachhält und zur kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einlädt.
So erinnert uns „Salomon“ daran, dass Geschichte immer mehr als eine Wahrheit kennt – und dass das Erinnern an die verborgenen Stimmen der Vergangenheit ein Akt der Menschlichkeit bleibt.
Der Roman wurde 2015 von der Kleinen Bibliothek des VdG im Rahmen eines literarischen Wettbewerbs unter dem Titel „Schicksal der Deutschen in Polen nach 1945“ als Preisträger veröffentlicht. Bei den Herausgaben der Kleinen Bibliothek des VdG handelt es sich um zweisprachige Veröffentlichungen: auf Deutsch und auf Polnisch.
Das Buch „Salomon“ sowie andere Werke sind beim Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) oder unter [email protected] erhältlich.