Im Dokumentations- und Ausstellungszentrum der Deutschen in Polen (DAZ) fanden am 9. April ein Workshop und eine Podiumsdiskussion zum Thema „Gelöschte Erinnerungen: Warum ist es so schwer, über das Jahr 1945 zu sprechen?“ statt. Die Wunden, die sexualisierte Gewalt in Kriegen schlägt, sind bis heute nicht verheilt. Welche Mechanismen führten dazu, dass diese Form der Gewalt gegen Frauen so lange ein Tabuthema blieb?
Ein verdrängtes Kapitel: Gewalt und Schweigen
Die Gewalt gegen Frauen im Jahr 1945, unter anderem durch Soldaten der Roten Armee, ist ein Thema, das jahrzehntelang verschwiegen wurde. Dr. Bogusław Tracz, Historiker, Buchautor und Mitarbeiter am Institut des Nationalen Gedenkens (IPN), beschrieb die Situation eindrücklich: „Es fällt schwer, heute zu sagen, wie viele Menschen deportiert und erschossen wurden. Vergewaltigungen fanden oft öffentlich statt, Zeugen waren häufig die Ehemänner und sogar die Kinder. Dazu gab es häufig den Mantel des Schweigens.“ Bis Ende der 1980er Jahre war es nahezu unmöglich, offen darüber zu sprechen, insbesondere in Polen und den ehemaligen Ostblockstaaten, in denen die Rote Armee als Befreierin stilisiert wurde.

Foto: Victoria Matuschek
Zudem wies Tracz auf die auf die Willkür und Altersunabhängigkeit der sexualisierten Gewalt hin: „Die Gewalt traf Frauen aller Altersgruppen: von kleinen Mädchen bis zu hochbetagten Frauen im Alter von mehr als 80 Jahren.“ Allein in Neiße beispielsweise wurden 182 Nonnen vergewaltigt – ein erschütterndes Beispiel für das Ausmaß der Verbrechen.
Die sexualisierte Gewalt war ebenfalls nicht an Nationalität gebunden, wie Dr. Joanna Hytrek-Hryciuk, Historikerin und Autorin des Buches „Die Russen kommen!“, betonte: „Die Gewalt kannte keine Nationalität: deutsche Überlebende, Jüdinnen… – alle Frauen waren davon betroffen.“ Sie berichtete zudem, dass Frauen in manchen Fällen sogar bei russischen Soldaten Zuflucht suchten: „Die Frauen baten die Russen um Schutz: ‚Ich werde dich waschen, für dich kochen und auch mein Bett mit dir teilen, aber dafür garantierst du mir und meiner Familie Sicherheit‘.“
Überlebensstrategien und literarische Zeugnisse
Im Workshop mit Dr. Katherine Stone, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Warwick, lag der Fokus auf Auszügen aus dem anonym veröffentlichten, autobiografischen Buch „Eine Frau in Berlin“, das die Gewalt der sowjetischen Soldaten gegen Frauen dokumentiert. Stone erklärte, dass die Darstellungen im Buch sich deutlich von der üblichen, vereinfachten Vorstellung von Vergewaltigung abheben. Die Protagonistin setzt bewusst Überlebensstrategien ein, indem sie selbst entscheidet, mit wem sie sexuelle Beziehungen eingeht, um sich vor weiterem Leid zu schützen. Doch diese Kontrolle war nicht allen Frauen möglich, und auch die Autorin hatte keine wirkliche Wahl. Stone fügte hinzu: „Die Autorin wählte eine Erzählweise, die von schwarzem Humor geprägt ist, um die Kontrolle über ihre Geschichte zurückzuerlangen und sich aus der Opferrolle zu befreien.“

Foto: Victoria Matuschek
Die Teilnehmenden des Workshops erörterten, dass sexualisierte Gewalt vor allem ein Instrument der Macht darstellt. Viele Opfer vermeiden es, darüber zu sprechen, aus Angst, das Trauma erneut zu durchleben. Gleichzeitig wurde deutlich, dass das Schweigen über diese Gewalt die gesellschaftliche Entfremdung zwischen Männern und Frauen weiter verstärkt hat. Die Erinnerung an diese Ereignisse ist komplex und vielschichtig, geprägt von Verdrängung, Gleichgültigkeit und in manchen Fällen sogar einer verharmlosenden Haltung gegenüber den Tätern.
Die Diskussion unter den Teilnehmenden zeigte, dass die Verarbeitung dieser traumatischen Erfahrungen zudem generationsübergreifend wirkt. Beata Dżon-Ozimek berichtete von einer distanzierten Mutter, deren Verhalten erst durch das Wissen um eine Vergewaltigung verstanden werden konnte, und von physischen und psychischen Spuren, die bis heute nachwirken. Die Teilnehmenden waren sich einig, dass Frauen die Erinnerung an ihr Leid verdienen – nicht nur als Opfer, sondern auch als starke Überlebende, die mit Mut und Würde ihr Leben fortführten.
Historische Einordnung und gesellschaftliche Dimensionen
Die Podiumsdiskussion, moderiert von Beata Dżon-Ozimek, Journalistin und Publizistin, vertiefte die historischen und gesellschaftlichen Aspekte. Dr. Joanna Hytrek-Hryciuk, Dr. Katherine Stone und Dr. Bogusław Tracz brachten ihre Perspektiven zu den Verbrechen ein. Tracz erläuterte, dass die Vergewaltigungen ihren Höhepunkt in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Roten Armee hatten, aber bis Anfang 1946 andauerten. Die schwierige Nachkriegszeit machte es den betroffenen Frauen fast unmöglich, Unterstützung zu finden. Viele Frauen wurden schwanger, was die Beziehungen zu ihren Kindern und Partnern zusätzlich belastete. Tracz fügte hinzu, dass in Berlin etwa schätzungsweise 10 Prozent der 1946 geborenen Kinder aus Vergewaltigungen hervorgingen.
„Sexualisierte Gewalt ist nicht nur ein Akt – sie ist ein Machtinstrument.“
Beata Dżon-Ozimek betonte die zentrale Bedeutung der Erinnerungskultur: „Das Schweigen, das Auslöschen dieser Erinnerungen hat viel zu lange angedauert. Heute ist es höchste Zeit, diese Geschichten sichtbar zu machen. Dabei geht es nicht nur um Schlesierinnen, sondern um Frauen insgesamt – Frauen, denen nie zugehört wurde, Frauen, die keine Möglichkeit hatten, über ihr Schicksal zu sprechen.“
Erinnerungskultur und heutige Relevanz
Die Veranstaltungen machten deutlich, dass sexualisierte Gewalt im Krieg nicht nur ein historisches Problem ist, sondern auch heute noch eine erschreckende Aktualität besitzt. Dr. Katherine Stone betonte die Notwendigkeit, viele Stimmen und Perspektiven einzubeziehen, um eine umfassende Geschichte zu erzählen: „Vergewaltigungen waren Massenerfahrungen, aber jede Erfahrung war individuell. Die ‚eine‘ Geschichte gibt es nicht.“ Sie warnte jedoch auch vor der Instrumentalisierung von Erinnerung: „Politikerinnen und Politiker tun sich immer noch schwer damit, wie sie die Erinnerungskultur pflegen sollen, ohne patriarchale Strukturen zu bedienen.“

Foto: Victoria Matuschek
Monika Wittek, ehemalige Kulturbeauftragte des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG), berichtete zudem von der schwierigen Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bei einer Interviewreihe des Hauses der deutsch-polnischen Zusammenarbeit: „Manchmal haben wir beide geweint, weil die Erinnerungen so emotional aufgeladen waren.“
Aus den Diskussionen im Workshop ging ebenfalls hervor, dass sich der Blick auf sexualisierte Gewalt in den letzten Jahren verändert hat und die Erinnerungskultur sich weiterentwickelt. Die Teilnehmenden betonten, wie wichtig es ist, diesen Diskurs fortzuführen – Stigmata zu hinterfragen, Tabus zu brechen und Räume für Empathie, Austausch und Aufarbeitung zu schaffen.
Organisiert wurden die Veranstaltungen von Iga Nowicz, ifa-Kulturmanagerin beim DAZ. Das Projekt fand in Kooperation mit dem Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) statt und wurde vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) aus den Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert.
Victoria Matuschek