Ob offizielle Dokumente aus der Gründungszeit der Deutschen Freundschaftskreise, dienstliche Unterlagen der früheren Sejm-Abgeordneten, erhaltene Ausgaben des „Schlesischen Wochenblatts“, Zeitzeugeninterviews oder Bundesverdienstkreuze: Das in Oppeln beheimatete Archiv der deutschen Minderheit ist das historische Gedächtnis der Deutschen in Polen. Geleitet wird es von der Germanistin Ewa Czeczor. Wir haben sie an ihrem Arbeitsplatz besucht.
An einem trüben Donnerstagvormittag im Februar sitzt Ewa Czeczor in ihrem Büro im Forschungszentrum der Deutschen Minderheit und blickt auf einen Stoß Bücher, der vor ihr auf dem Schreibtisch liegt. In den Nebenzimmern und auf den Gängen ist es ruhig, die Kolleginnen und Kollegen sind an diesem Tag ausgeflogen. Irgendwo im Gebäude, in dem auch die Deutsch-Polnische Joseph-von-Eichendorff-Zentralbibliothek und die Caritas der Diözese Oppeln untergebracht sind, gibt jemand ein Geburtstagsständchen zum Besten.
Ganz oben auf dem Bücherstapel liegt eine japanische Übersetzung der Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Joseph von Eichendorff, daneben ein Sammelband mit Erzählungen und Gedichten des großen Lyrikers der deutschen Romantik. „Die Bücher hat uns vor Kurzem Pfarrer Heinrich Rzega, der Gründer der Eichendorff-Gedenkstätte in Lubowitz, geschenkt. Ich sehe sie gerade durch“, sagt Ewa Czeczor.
Seit 2022 leitet die Germanistin das in Oppeln angesiedelte Archiv der deutschen Minderheit. Als Teil des Forschungszentrums der DMi dient es als historisches Gedächtnis der Deutschen in Polen. Im Laufe der letzten vier Jahre – das stationäre Archiv wurde erst im Jahr 2020 ins Leben gerufen – ist der Bestand auf zehntausende Objekte angewachsen. Die Sammlung umfasst dabei alles, was mit der Geschichte der deutschen Minderheit in Polen in Verbindung steht oder für diese relevant ist: offizielle Dokumente aus ihren Dachorganisationen und Freundschaftskreisen, Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Fotos, Korrespondenzen, persönliche Gegenstände aus privaten Schenkungen oder auch Zeitzeugeninterviews. „Unser Bestand erweitert sich ständig“, sagt Ewa Czeczor stolz. „Und er zeigt, wie facettenreich die Arbeit der deutschen Minderheit war und bis heute ist“, fügt sie hinzu.
Neu hinzugekommen sind zuletzt einige prall gefüllte Aktenordner mit dienstlichen Dokumenten aus dem Büro des früheren Sejm-Abgeordneten Ryszard Galla, die er dem Archiv nach seiner verfehlten Wiederwahl im Oktober 2023 freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Auch fast alle anderen ehemaligen Parlamentarier aus den Reihen der deutschen Minderheit, darunter Georg Brylka, Bruno Kosak, Helmut Paisdzior und Henryk Kroll, haben dem Archiv eine Vielzahl ihrer Unterlagen übergeben.
Die große Herausforderung sei es, diese Bestände zu bearbeiten, erklärt Ewa Czeczor. Will heißen: Auswertung nach den Kriterien des Archivwesens und Eintragung in die Inventar- und Kollektionslisten. Im Anschluss steht dann gegebenenfalls noch die Digitalisierung des Materials an. „Wir sind bestrebt, so viel wie möglich zu digitalisieren, weil uns bewusst ist, dass das der Weg der Zukunft ist. Auf diese Weise ist es leichter, das Material zugänglich zu machen, zum Beispiel für Wissenschaftler aus dem In- und Ausland, die sich im Rahmen von Forschungsprojekten mit Bezug zur deutschen Minderheit an uns wenden können. Für unsere digitalisierten Bestände haben wir schon einen zweiten Server beantragt, weil wir den digitalen Bestand noch besser schützen möchten“, so die Archivleiterin.
Das Archiv als Schatzkammer
Dann steht Ewa Czeczor auf und geht voran ins Herzstück ihres beruflichen Schaffens – ins physische Archiv, das sich zwei Etagen tiefer im Keller des Gebäudes in der Oppelner Szpitalna-Straße befindet. Sobald man es durch die schwere, graue Tür betritt, steigt einem unweigerlich der typische Geruch von alten Büchern und Papieren in die Nase. Obwohl die Lüftung in Betrieb ist, ist es ein wenig stickig in dem großen Saal, der durch von der Decke leuchtende Neonröhren in ein weiß-kaltes Licht getaucht wird. Vorbei an etlichen verschiebbaren Archivregalen voller Bücher, Ordner und beschrifteter Kisten – darunter auch eine mit Dokumenten aus den Anfangsjahren des Bundes der Jugend der Deutschen Minderheit – geht es durch einen schmalen Gang in den hinteren Bereich des Raums zu einem Arbeitstisch, auf dem ein paar alte deutschsprachige Zeitungen liegen. Auch alle Ausgaben des „Schlesischen Wochenblatts“ – wie das „Wochenblatt.pl“ von 1995 bis 2011 hieß – gibt es hier.
„Als ich im Archiv angefangen habe, hatten wir zwar Bestände in digitaler Form, aber der physische Bestand war sehr gering. In den ersten Jahren unseres Bestehens haben wir uns darauf konzentriert, so viel Material wie möglich zu retten, zu übernehmen und zu sammeln. Wir wollten erstmal unseren Bestand aufbauen. Und jetzt kommen wir mit der Bearbeitung kaum noch hinterher, so viel ist es über die Jahre geworden“, erzählt Ewa Czeczor.
Sie greift in eine kleine Kiste, die ebenfalls auf dem Tisch steht, und fischt einen der vielen Schätze des Archivs heraus: das Verdienstkreuz am Bande, mit dem Pfarrer Heinrich Rzega am 10. März 1996 für seine Verdienste um Deutschland und die deutsch-polnische Verständigung ausgezeichnet wurde. Auch eine große Kerze mit bayerischem Wappen, die der Geistliche bei derselben Gelegenheit ausgehändigt bekam, findet sich darin.
Und noch etwas liegt auf dem Tisch: eine große Schachtel mit einem Teil der sogenannten Kroll-Listen. „Das sind die Listen mit den Unterschriften, die Ende der 1980er-Jahre für die Legalisierung der deutschen Minderheit gesammelt wurden“, berichtet die Archivleiterin. Auf Initiative des Urgesteins der deutschen Minderheit in Polen, Johann Kroll, wurden diese Listen mit den Namen jener Menschen, die sich als Deutsche bekannten, damals in Oberschlesien zusammengestellt, um die Anerkennung der deutschen Minderheit im Oppelner Land zu erreichen. Im Bestand des Archivs befinden sich heute Listen mit etwa 13.000 Unterschriften. Insgesamt hätten aber mehr als 200.000 Menschen ihre Signaturen abgegeben, erklärt Ewa Czeczor. „Das hier ist nur ein kleiner Teil, der gerettet wurde.“
Von alten Knöllchen und Parkkarten
„Wir sammeln aber auch Lustiges und wirklich Ungewöhnliches“, sagt sie amüsiert, als sie sich – zurück in ihrem Büro – wieder auf ihren Stuhl sinken lässt. „Zum Beispiel haben wir in unserer Sammlung auch ein Knöllchen von Johann Kroll, das er kassiert hat, als er irgendwo in Gleiwitz falsch geparkt hat.“
Dann dreht sie sich um und zeigt auf ein laminiertes Dokument, das an der Pinnwand hinter ihrem Schreibtisch hängt. „Und das ist ohnehin mein Lieblingsstück.“ Sie meint eine Parkkarte aus dem Jahr 1998, ausgestellt auf das Auto Henryk Krolls, dem Sohn von Johann Kroll. „Mit dieser Parkkarte hinter der Windschutzscheibe durfte Herr Kroll den Parkplatz des Sejm benutzen, als er noch Parlamentsabgeordneter war“, erklärt die Archivarin grinsend. „Er hat sie uns vor einigen Jahren geschenkt.“
Dann wird sie wieder ernst und blickt durch das Innenfenster ihres Büros in die Eichendorff-Bibliothek im Erdgeschoss des Gebäudes. „Für mich besteht das Archiv aber nicht nur aus diesen oder jenen Dokumenten – hinter all diesen Dingen stehen immer Menschen und ihre Erfahrungen, Erlebnisse und Schicksale. Das darf man nie vergessen. Und hieraus ergibt sich auch unser und mein Auftrag: Wenn uns jemand seine Geschichte und Dokumente anvertraut hat, dann sind wir in der Pflicht, diese angemessen für die Nachwelt zu verwahren.“
Sie fügt hinzu: „Wir sorgen dafür, dass die vielen Schätze nicht verlorengehen und die Geschichte der deutschen Minderheit in Polen nicht in Vergessenheit gerät. Und die vielen Anfragen von Wissenschaftlern aus Polen und Deutschland, die unsere Bestände für ihre Forschungsprojekte nutzen wollen, oder private Aktivisten, die uns ihre Sammlungen zur Verfügung stellen, zeigen: Wir werden gebraucht.“
Lucas Netter