Wochenblatt-Interview mit Bernd Fabritius
Im Mai dieses Jahres wurde Bernd Fabritius erneut zum Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten ernannt. In dieser Funktion ist er nicht nur für die Minderheiten in Deutschland, sondern auch für die deutschen Minderheiten im Ausland zuständig. Bis vor kurzem war Fabritius außerdem Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV). Mauro Oliveira sprach mit ihm über seinen Abschied beim BdV und die Erweiterung seines Aufgabenbereichs als Beauftragter der Bundesregierung.
Herr Fabritius, Sie sind seit Mai wieder Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. Das Amt hatten Sie bereits von 2018 bis 2022 inne. Konnten Sie nahtlos an ihre erste Amtszeit ansetzen? Was hat sich seit 2022 verändert?
Ich konnte zum einen nahtlos ansetzen, weil die Anliegen der Personenkreise, für die ich Verantwortung habe, ähnlich oder gleich geblieben sind. Es geht darum, dass autochthone Minderheiten in Staaten, die vorher zum sozialistischen, kommunistischen Machtbereich gehört haben, heute ihre Identität weiter pflegen müssen.
In Polen selbst hat sich einiges geändert. Ich kann mich an das Ende meiner vorherigen Mandatszeit erinnern. Damals hatten wir in Polen die Problematik der konkreten ethnischen Benachteiligung der deutschen Minderheit durch die Reduzierung des muttersprachlichen Unterrichtes. Das war ein Frontalangriff auf die Identität der Minderheit an sich, wenn man bedenkt, dass die Muttersprache vielleicht der Hauptbestandteil der kulturellen Identität ist. Ich bin sehr froh, dass die neue polnische Regierung dieses korrigiert hat.
Der Unterschied, den ich jetzt wahrnehme, ist natürlich, dass die Minderheiten, auch das staatliche Schulsystem vor dem Problem stehen, dass sie ein strukturell beschädigtes System zur Festigung der Muttersprache wiederherstellen müssen. Und wenn einmal Lehrkräfte abwandern, sich neue Aufgaben suchen, weil der Staat ihre Aufgabe wegstreicht, dann ist es sehr, sehr schwer, dieses System wiederherzustellen.
Ich sehe auch eine Minderheit, die diese Zwischenphase, diese negative Zwischenphase hervorragend gemeistert hat, aus eigener Kraft und mit Unterstützung auch aus Deutschland. Ich sehe eine Minderheit, die viel geleistet hat und jetzt gerade dabei ist, sich auf dem Gebiet erneut zu konsolidieren. Das ist eine neue Aufgabe für mich oder eine neue Situation und ich freue mich, dass ich dort weitermachen kann.
Welche Möglichkeiten gibt es denn, dieses beschädigte System wieder aufzubauen? Was muss unternommen werden, damit das wiederhergestellt wird?
Das ist natürlich eine Frage, die sich an das polnische System richtet, weil es ja um den Unterricht im staatlichen Schulwesen geht. Dort muss aus meiner Sicht Polen alle Anstrengungen unternehmen, um den muttersprachlichen Unterricht in den staatlichen Schulen wiederherzustellen.

Foto: Neues Wochenblatt
Das ist sicher eine Herausforderung, die Polen – aber gerne auch in Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland – lösen kann. Wir werden natürlich auch beim Thema der Alternativmöglichkeiten, weiter am Ball bleiben.
Ich denke, es ist eine große Bandbreite an Maßnahmen notwendig. Ich hoffe, dass wir bald an die positiven Situationen erneut anknüpfen können, die es vor dieser staatlichen Diskriminierung gegeben hat.
Sie waren bis gestern noch Präsident des BdV, des Bundes der Vertriebenen. Nach fast elf Jahren haben Sie dieses Amt jetzt abgegeben. Mit welchen Gefühlen geben Sie dieses Amt ab?
Das ist eine komplizierte Frage.
Ich gebe das Amt mit Dankbarkeit für das, was möglich war, mit Hoffnung auf eine sehr gute konstruktive Fortsetzung und auch mit ein bisschen Wehmut ab. Also Dankbarkeit, Hoffnung, Zuversicht und Wehmut, das sind die vier Begriffe, mit denen ich es zusammenfassen würde.
Ich fange vielleicht mit dem letzten Begriff an, das ein bisschen zu konkretisieren. Wehmut deswegen, weil mir der Einsatz für die Themen wirklich ein Herzensanliegen war, ist und bleibt. Wehmut deswegen, weil ich mit dem BdV quasi groß geworden bin.
„Ich kann also sagen, dass ich fast über mehrere Jahrzehnte in diese Arbeit hineingewachsen bin. Sie war und ist Teil meines Lebens.“
Bereits zur Jahrhundertwende war ich im Bereich der Verbände der Siebenbürger Sachsen engagiert. Ich bin dann relativ schnell im BdV-Landesverband in Bayern in ein Zusammenwirken für den gesamten Personenkreis der deutschen Heimatvertriebenen, der Aussiedler, der Spätaussiedler und der deutschen Minderheiten in allen Staaten, wo die heute autochthon leben, hineingewachsen. Aus dem Landesverband bin ich dann auch relativ schnell ins Bundespräsidium gewählt worden, zuerst als Beisitzer, zum Schluss als Vizepräsident.
Ich kann also sagen, dass ich fast über mehrere Jahrzehnte in diese Arbeit hineingewachsen bin. Sie war und ist Teil meines Lebens. Und jetzt seit gestern zu wissen, dass eine Weitergabe der Stafette möglich war, dass jetzt im BdV die Arbeit sicherlich genauso weitergeführt wird wie bisher, aber ohne mich, das ist ein bisschen ein neues Gefühl. Das würde ich mit Wehmut beschreiben.
Wenn ich Dankbarkeit als ersten Punkt angesprochen habe, dann ist es Dankbarkeit dafür, dass ich mich die ganzen vielen, langen Jahre – nicht nur die elf Jahre, in denen ich Präsident war, sondern auch die Jahre davor, als Vizepräsident – immer darauf verlassen konnte, dass ich den heterogenen Personenkreis der Vertriebenen, Aussiedler, Spätaussiedler und der deutschen Minderheiten immer als Familie empfinden durfte. Wenn Sie sich das vorstellen, alle Vertriebenen, Aussiedler, Spätaussiedler und die deutschen Minderheiten, sind genauso heterogen wie ihre Herkunftsgebiete. Und man kann Polen nicht mit Siebenbürgen vergleichen und man kann Siebenbürgen nicht mit Kasachstan oder mit Sibirien vergleichen.
Und deswegen Dankbarkeit dafür, zu wissen, dass der gesamte Personenkreis sich auf der Grundlage der Charta [der deutschen Heimatvertriebenen] als ihr Grundgesetz immer in dem Sinne engagiert hat, wie ich das auch empfunden habe, also pro-europäisch, für Brückenbau, für Verständigung und aufgrund der Perspektive, dass die Heimatvertriebenen – dort zähle ich die Aussiedler, Spätaussiedler mit – und die Heimatverbliebenen, also unsere Landsleute, die auch in Polen nach wie vor zu Hause sind, dass das eigentlich eine Gemeinschaft ist.
Es sind zwei Seiten einer Medaille. Beide Seiten tragen ein Kriegsfolgeschicksal, sowohl die Vertriebenen als auch die vereinsamt, als Minderheit Zurückgebliebenen. Das alles zu verbinden, das ist eine Herausforderung, wo man diesen Familiengedanken braucht: dafür Dankbarkeit.

Foto: VdG
Zuversicht ist dahingehend zu verstehen, dass diese Arbeit auch künftig in dem gleichen Gedanken und mit der gleichen Akzeptanz, sowohl in der bundesdeutschen Gesellschaft als auch in den Herkunftsgebieten, weitergeführt werden kann.
Ich kann mich erinnern an einen Kommentar in Polen, den die polnische Presse transportiert hat, unmittelbar in den Wochen, nachdem ich gewählt worden bin. Da hieß es, „Fabritius eignet sich nicht zum Feindbild“. Das war vielleicht eine Abgrenzung zu meiner Vorgängerin, die als Feindbild instrumentalisiert worden ist.
Ich war sehr froh – und es ist auch ein Stück weit Zuversicht – dass sowohl das Thema der Heimatvertriebenen als auch das Thema der Heimatverbliebenen künftig nicht mehr für eine innenpolitische Instrumentalisierung in allen Ländern missbraucht werden. Ich hoffe, dass die Zuversicht sich bewahrheitet.
Es gibt nun diesen Organisationserlass des Bundeskanzlers, mit dem Sie als Beauftragter zusätzliche Aufgaben und Kompetenzen erhalten. Sie sind neu auch für „Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa einschließlich der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung sowie die Kulturförderung autochthoner Minderheiten“ und für „Kultur-, Gesellschafts- und Medienbeziehungen in Bezug auf deutsche Minderheiten im Ausland“ zuständig. Welche konkreten Aufgaben und Tätigkeiten sind damit verbunden?
Das kann ich zwar nicht schnell, aber ich kann das gut beantworten, weil es auch der BdV gewesen ist, der sich für diese Änderungen in der Organisation der Bundesregierung eingesetzt hat.
Die neue Aufgabe beinhaltet schwerpunktmäßig die Umsetzung der staatlichen Aufgaben aus § 96 BVFG [Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge], sprich: Kultur und Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen, einschließlich der deutschen Minderheiten, die in den Heimatgebieten verblieben sind, zu vertreten. Und wenn ich „zu vertreten“ sage, dann muss ich eigentlich drei Bereiche nennen. Wenn man sich den § 96 zu Gemüte führt, – das sollte man einmal im Monat machen, damit man weiß, was da alles an Inhalt drin steht – dann weiß man, dass man Kultur und Geschichte der Vertriebenen, aber auch der Heimatgebiete im [1.] Bewusstsein des Personenkreises selbst, also im Bewusstsein der Vertriebenen und auch der Heimatverbliebenen, nächster Schritt [2.]: im Bewusstsein der gesamtdeutschen Gesellschaft und der dritte Schritt [3.]: in den Herkunftsgebieten selbst, verankert, fördert, stärkt und in die Zukunft trägt. Man sieht, wie breit dieses Portfolio ist. Es gibt in Deutschland knapp 20 wissenschaftliche Institute bundesweit, die sich darum befassen.
„Es sind zwei Seiten einer Medaille. Beide Seiten tragen ein Kriegsfolgeschicksal, sowohl die Vertriebenen als auch die vereinsamt, als Minderheit Zurückgebliebenen.“
Aber es gibt auch die Kulturarbeit der Selbstorganisationen, die [der] Kulturträger – die Kultur, über die wir sprechen, ist ja nicht tot, sondern es gibt Träger dieser Kultur, die ist noch da. Das alles muss gefördert und weiterentwickelt werden.
Die Kulturförderung ist aus meiner Sicht der wichtigste Hebel dabei, dem Personenkreis zu signalisieren: Erstens, ihr gehört natürlich zu uns, zweitens, eure Kultur, euer Sein ist Teil des gesamtdeutschen kulturellen Erbes und gehört weitergetragen. Und [drittens] ihr gehört natürlich dazu in Europa, und zwar in dem Europa, das man auch auf den Grundideen der Charta aufgebaut hat, im Sinne eines Miteinanders, eines Zusammenwachsens und der Beibehaltung der eigenen kulturellen Identität. Auch dort muss das verankert werden.
Und genau zum gleichen Kontext gehört die Zusammenführung mit den Zuständigkeiten aus dem Auswärtigen Amt, die Sie auch zitiert haben, wo die Förderung der deutschen Minderheiten in Medienbeziehungen verankert war.
Das alles gehört eigentlich zusammen. Es gehört koordiniert vertreten, weil es zusammenwirkt. Und genau deswegen ist das erstens wichtig gewesen und zweitens ist das der Grund gewesen, dass ich mich auch dazu entschieden habe, das Amt des BdV-Präsidenten aufzugeben: Weil dieses neue, umfassendere Portfolio des Beauftragten keinen Nebenjob erlaubt.
Und weder das Amt des BdV-Präsidenten ist ein Nebenjob, noch das Amt des Beauftragten kann ein Nebenjob sein, sondern beide Ämter fordern eigentlich 150 Prozent Einsatz. Und meine Absicht ist, dass ich die Aufgaben des Bundesbeauftragten mit 150 Prozent Einsatz fortführe.
Zum Abschluss möchte ich die Perspektive vielleicht noch ein bisschen weiten. Aber Sie haben das teilweise auch schon vorweggenommen. Wir feiern ja dieses Jahr das 35-jährige Bestehen der SKGD im Oppelner Schlesien – und morgen gibt es aus diesem Anlass die Gala in Gogolin. Gleichzeitig sind auch seit der deutschen Wiedervereinigung 35 Jahre vergangen. Und in diesen 35 Jahren ist die Integration Europas stark vorangeschritten. Wie geht es denn deutschen Minderheiten in Europa? Was gibt es, vielleicht auch auf europäischer Ebene, noch tun?
Ich bin unglaublich froh, dass es mit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs und mit einer geschichtlichen und politischen Öffnung auch der Heimatstaaten, der Herkunftsregionen der deutschen Minderheiten möglich geworden ist, dass diese Minderheiten ihr eigenes Minderheitendasein oder ihre kulturelle Identität pflegen. Wenn man sich überlegt, dass auch in der Region hier bis zur Wende die Verwendung der deutschen Sprache verboten gewesen ist. Es war nicht möglich, Schlesische Kultur in Schlesien zu leben.
„Wir feiern eigentlich, wenn wir jetzt 35 Jahre SKGD in Oppeln feiern, den Geburtstag der Minderheit in ihrer akzeptierten Form.“
Und die Negierung der Existenz der Minderheit, die ist auch nach 1991 oder nach 1990 erst langsam aufgegeben worden. Und wenn ich an die Messe in Kreisau [am 12. November 1989] und diesen Auftritt des Bundeskanzlers Helmut Kohl zurückdenke, das ist ein Startschuss gewesen, der die deutsche Minderheit in Polen wieder mit einem eigenen Selbstbewusstsein und mit einem eigenen Existenzrecht als Minderheit versehen hat.
Das ist eine Herausforderung die erst nach und nach bewältigt worden ist. Und wir feiern eigentlich, wenn wir jetzt 35 Jahre SKGD in Oppeln feiern, den Geburtstag der Minderheit in ihrer akzeptierten Form. Ich muss das extra so sagen, weil es natürlich keine neue Minderheit oder eine neue Gemeinschaft ist. Die Schlesier hier in der Region sind eine autochthone Minderheit, die leben schon immer hier. Und wir feiern jetzt 35 Jahre Wiedergeburt, wenn Sie so wollen, der Deutschen in dieser Region.
Der Text ist eine gekürzte Fassung des Interviews.